REVEREND VINCE ANDERSON
D-Dresden, The Church - 18. Mai 2004
Halleluja, auf in die Church! Die in der Bautzner Straße 32a gelegene Rockbar hatte ihre Taufe schicksalsträchtig am 11. September erhalten - 365 Tage „danach“, anno 2003. Für heute hatte das Church-Blatt „Divine Messenger“ eine „Gospel Blues Messe - Back on earth for one night: Rev. Vince Anderson aus U.S.A.“ offeriert. - Für Peanut und mich war das der Weihegang in den noch jungen Klub am Südrand des Szeneviertels Äußere Neustadt. Wir tauchten ein in achtzig Quadratmeter Schwarz, daß von einer langen Bar, samtenen Kanapees und einer erhöhten Bühne umrahmt war. Ikonenfenster, Gloriolen, Götzenbilder, Dornenkränze, schwebende Engel, Kronleuchter, signierte Konzertplakate und Samtvorhänge in Rot sorgten für ein gediegenes Szenario. Mittendrin stand Ex-Gorilla-Monsoon, Ex-Groovestation und nun The-Church-Chef „Dude Hellrock666“ Beissert - derweil das übrige Personal beim Grillen im Garten ein Sonnenbad nahm. Wegen falscher Uhrzeit für den Beginn waren wir überpünktlich da. Wir killten die Stunde mit indischen Speisen in der nahen „Scheune“, und waren halb elf zurück. Mit uns handverzählte einundzwanzig Jesusfreaks und anderweitig Schlaue.
Schwarzes Jackett, Stohhut, Flechtzopf, verfilzter Bart, ein bißchen wie ein Amisch: Dies war der selbst ernannte Dirty-Gospel-Priester REVEREND VINCE ANDERSON. Nicht nur optisch erschien Anderson als Sonderling. In den Achtzigern noch im Fanclub der White-Metaller Stryper, trat er später einer aus Junkies, Huren und Künstlern bestehenden Hippiekirche bei, fand zu Gott, und tingelt seither als echter (!) Reverend mit der Kirche „The Church of the Holy Unruly Spirit of God in Christ“ und den Begleitmusikern „The Love Choir“ durch Bars und Klubs, um Mißratene zu therapieren. Der genuschelte Blues des Tom Waits traf sich mit der abgewrackten Poesie von Charles Bukowski: Unter dieser Konstellation nuschelte und orgelte der Bezopfte zur Einleitung um 22.45 Uhr „Get Out of My Way“. In dessen Folge er mit einem markerschütternden „Satan hates me!“ durchs Publikum auf die Straße stürmte... und mit guten Nachrichten zurückkehrte: „Okay, ladys and gentlemen: Satan has left the building!“ Anderson bat die Jünger, die in USA hinterlassenen Instrumente seines Love-Chors durch Mitsingen zu ersetzen - was sie lautstark taten. Er dankte, und klagte über die verlogen grinsenden Münchner in der Nacht zuvor. Ebenso keine Absolution gab er dem „War criminal George W. Bush, der so wenig Christ wie Cowboy sei (“Tryin to be an Asshole“).“ Dann wurde es totenstill - eine emotionale Neuauflage von Bob Dylans „Hard Rain“ erfüllte die Church. Immer wieder erzählte Anderson launig vom Leben, seiner kalifornischen Heimat Fresno, wo es im Sommer 100 Degree (38 Grad Celsius) werden. Er kühlte sich mit gefrorener Unterwäsche runter, und als ihn auch noch Zeugen Jehovas heimsuchten, ging er nach New York. Da standen die zwei Türme noch. Dem allein zurückgelassenen Bruder stiftete er das stille „Fallen from the Fray“. Weiter ging´s mit „Satan Hates Me“. Vince schritt klatschend und mit spitzer Zunge „Satan hates me“-skandierend durchs Völkchen, und ließ es beim fast schon entfesselten „Jesus Christ (friend of mine)“ schier durchdrehen. Ein stinknormaler Morgen in seiner Brooklyner Bude sollte sein Leben verändern: der Tag, an dem in seiner Kloschüssel eine Ratte schwamm. Ihr zu Ehren verfaßte er „Feel like a Rat in a Toilet“. Und wie er sich die eigene Beisetzung ausmalt: das war in „Bon Voyage (a drunkard´s elegy)“ zu erfahren. Es folgte das gefeierte „Let it Time“, und als Kontrast eine feuchte Zeitlupenversion von Abbas „Dancing Queen“. Vince sprach: „Gospel means truth!“ und stiftete der Countrylegende Johnny Cash post mortem „He Turned the Water into Wine“. Wieder sang Dresden lauthals mit, und beim Stones-Cover „The Last Time“ revanchierte sich der Reverend mit einem kleinen Shuffle auf dem Fußboden. Eine Suada hatte er noch: „Live, live, live! Because you don´t know what tomorrow is!“; und noch eine Botschaft voller Herzblut als Geschenk für den nächsten Morgen: „Beautiful Sunset“. Nach einem fast zweistündigen (!) Alleingang waren alle Messen gesungen, und Anderson erteilte der Gefolgschaft seinen Segen: „God bless you! Good night!“
 
Ich konnte mit dem Heiligen noch paar Worte wechseln. Der entpuppte sich als total netter Typ, war nur sehr müde von der langen Tour. Tags drauf trat er im unaussprechlichen „Bishopswerde“ (Bischofswerda) auf, und danach sollte es heim nach Amerika gehen... Derweil trieb ein Pärchen unterm Treppenrost zum Klo ein heißes Spiel... Und draußen tobte Dresdens Nachtleben. Giggelnde Mädchen ließen bei „phatten Sounds und coolen Drinks“ ihre Beine von der zwanzig Meter hohen Brüstung des alten Hollywood-Balkons an der Bautzner Straße baumeln... Der ganz normale Wahnsinn in Dresdens Neustadt.
 
 
Reverend Vitus 666, 6. Juni 2004
.:: ABSPIELLISTE REVEREND VINCE ANDERSON ::.
1. Get Out of My Way
2. Way Right Here
3. Tryin to be an Asshole (But I got Jesus)
4. Hard Rain [Bob Dylan]
5. Fallen from the Fray
6. Satan Hates Me
7. Jesus Christ (Friend of mine)
8. Feel Like a Rat in a Toilet
9. Bon Voyage (A drunkards elegy)
10. Let it Time
11. Dancing Queen [Abba]
12. He Turned the Water into Wine [Johnny Cash]
13. The Last Time [The Rolling Stones]
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14. Beautiful Sunset
In Memoriam
Nach neun Monaten war „The Church“ Geschichte. Unter dem Motto „Rocken bis zum letzten Troppen“ servierten die DJs der „Pussytotalbar“ der Kirche am 12. Juni 2004 das letzte Abendmahl.
 
 

Heiliger Vitus im Juni 2004