THE SONIC DAWN
D-Frankfurt am Main, Feinstaub - 29. Oktober 2024
Tosende Autopisten, mondäne Straßenzüge aus der Gründerzeit, ausgerottete Einwohner, etliche Bars und Restaurants: Das sieht man auf dem Weg zum „Feinstaub“ im Frankurter Nordend. Es war Peanuts und mein erster Besuch im Klub, der nach Frankfurts Ort mit der stärksten Feinstaubbelastung benannt wurde - der Friedberger Landstraße. Ganz in der Nähe hatte nicht nur der Berichter sein Daheim für einige Jahre, sondern auch die Böhsen Onkelz und unser alter Freund Jochen, der 1969 in einer illegalen Kommune mit Hausnummer 253 hauste. Die „Friedberger“ teilt das Viertel in Nordend-West und Nordend-Ost, in beiden wohnt die Schickeria. In Nummer 131 residiert die vor zwanzig Jahren vom ehemaligen „Cave“-Betreiber Tamo Echt gegründete alternative Undergroundbar Feinstaub. Dort tummelten sich am heutigen Herbstabend etwa vierzig reifere Leute, manche skurril wie Buddy Holly mit gegeltem Haar, dicker Brille und buntem Hemd, turtelnde Pärchen aus der Nachbarschaft, die sich nach dem Feierabendquickie an einer Dosis metaphysischer Musik berieselten, sowie unser Freund Jochen - der beim dritten Lied wie ein Phantom in teurer Jacke und Kaschmirschal nach langer Zeit unangemeldet neben mir aufkreuzte. Als superfair entpuppten sich die Preise in dem kleinen, stimmungsvoll ausgeleuchteten Raum: Der Einlaß kostete fünfzehn Euro, ein Schankweib schlängelte sich den ganzen Abend lang mit einem Tablett und großen Getränken zu Dreiachtzig durchs Publikum. Für die stilvolle Beschallung im Psych der Sechziger- und Siebzigerjahre sorgte der entrückte DJ Moonshake. Draußen an der Abendkasse saß sein nicht minder kultiges Pendant Laiki Kostis. Die drei wichtigsten Typen des Abends schienen indes eher von der ruhigen Natur und erstellten an der Fensterbank neben uns ihre Setliste. Wir hatten sie zwei Tage nach dem Abschied meiner Mutter beim „Heavy Psych Sounds Fest“ 2019 in Dresden erlebt. Fünf Jahre später schwebte meine Mutter in meinen Gedanken wie eine Fee aus einer besseren Welt über diesem Abend.
Während südlich des Mains, im „Ponyhof“ Alt-Sachsenhausen, die finnische Neunzigerjahre-Legende Waltari lärmte, starteten Kopenhagens Acidrocker THE SONIC DAWN mit halbstündiger Verspätung und drei Blumenkinderliedern in den Spuren der Idole von 1969 namens „Think It Over“, „Forever 1969“ und „Opening Night“ in ihr Ritual. Dabei mußten Sechssaiter und Sänger Emil Bureau, Bassist Niels Fuglede und der baumlange Schlagzeuger und Co-Sänger Jonas Waaben (die sich übrigens nicht nur seit der Kindheit kennen, sondern mit ihren Bärten und schulterlangen Haaren auch drei Brüdern ähnelten) mit einer tiefen, aber schmalen Bühne zurechtkommen. Das hielt sie aber nicht ab, eine anderthalbstündige Darbietung voller Herzblut und Echtheit abzuliefern. Trotz Lautstärke- und zeitlicher Beschränkung katapultierten die Dänen die Meute fünfzig Jahre zurück in eine Welt zwischen handgemachtem Psych- und Acid Rock frei von jedem Firlefanz, so daß der kleine Raum schon nach kurzer Zeit zu einer knisternd-intimen Sauna transformierte. Mit dem fünften und in meinen Augen besten, tiefsten und härtesten Lied - dem in ein heftiges Riffgewitter mündenden „Psychedelic Ranger“ - pegelten sämtliche Regler auch am erlaubten Limit. Meine Freundin, die mit einer Kreislaufschwäche zwischendurch an die frische Luft mußte (wo die Lieder kaum leiser tönten), sowie Jochen, der nach einer Stunde wie ein alter Baumriese ein bißchen nach vorn ins Schwanken kam (und von einem Gast aufgefangen wurde), wissen ein Lied davon zu singen. Es hatte sich scheinbar einiges getan, seit The Sonic Dawn 2019 mit den Alben 'Eclipse' und „Into The Long Night' in Dresden waren. Zwei neue Langrillen hatten sie aufgenommen: 'Enter The Mirage' sowie 'Phantom', mit dem das Trio heute auf der gleichnamigen Tour unterwegs war. Der neue Stoff klang düsterer und hatte offenkundig finstere Botschaften. Wie „Scorpio“, welcher vom kalifornischen Serienmörder Zodiac handelte. Während „On the Edge of Our Time“ und „Nothing Can Live Here“ geradezu endzeitlich klangen. Natürlich gab es härtere Passagen. Aber immer wieder war das die Vergangenheit verehrende Material von zerbrechlichen Gitarren, hellen Kehlen und durchschwitzten Haaren getragen. Es war wie das Leben als Achterbahn der Gefühle: mal heiter, mal schrill, mal niederschlagend - und dabei immer echt. Die letzten Minuten vor Ende der zehnten Stunde füllten die Dänen mit der sedierenden Pseudozugabe „Summer Voyage“. Man muß kein Hellseher sein, um zu erahnen, daß sich Emil Bureau und Komplizen über die Jahre eine Anhängerschaft erspielt haben. Mit dem Auftritt in Frankfurt standen The Sonic Dawn am Anfang einer Tingeltour durch Westeuropa und Skandinavien bis in den Dezember hinein.
.:: ABSPIELLISTE ::.
 
THE SONIC DAWN
(20.33-22.00)
1. Think It Over
2. Forever 1969
3. Opening Night
4. Transatlantique
5. Watching Dust Fall
6. Psychedelic Ranger
7. As of Lately
8. Islands of Time
9. 21st Century Blues
10. Scorpio
11. Iron Bird
12. On the Edge of Our Time
13. Nothing Can Live Here
14. No Chaser
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15. Summer Voyage
Briefkasten in der Friedberger Landstraße 253 vor 55 Jahren - anno 1969 (© J.Wöhle)
Im Nachhall ergab sich eine Plauderei mit dem aus der Zeit gefallenen, kumpelhaften Klubchef Tamo. Wir hatten uns zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Alkohol floß (und nicht das gepriesene Dope!), die Stimmung war gut. Jochen, der kurz davor einer ebenso rammelvollen Sitzung seines Ortsbeirats entronnen war, entschwand sichtlich angeschlagen und auch etwas gebrechlich in Richtung seiner Kommune von 1969 in die kühle Nacht. Wir hätten es sehr bereut, nicht zu The Sonic Dawn im Feinstaub gegangen zu sein! Für Peanut und mich war es eine langersehnte Flucht aus einer inneren Zerrissenheit und einem seit Monaten schwelenden, psychischen und emotionalen Ausnahmezustand.
 
 
Heiliger Vitus, 31. Oktober 2024