AMENRA, BORIS
D-Karlsruhe, Jubez - 3. März 2018
Mit den Flamen Amenra und Japans Boris bestritten im Februar und März zwei Schwergewichte in Sachen Post Metal und Drone Doom einen gemeinsamen Feldzug über England und Europa. Er versprach, massiv zu werden... Nach dem verpaßten Spektakel in Dresden bot sich für die frischvermählte Peanut und mich acht Tage später eine neue Chance in der Nähe unserer westdeutschen Bude. Für die beiden Gruppen hatten wir einiges auf uns genommen, das heilige Wochenende geopfert, nur für Reise und Eintritt weit über hundert Euro geblecht (Karte zum Normaplpreis: 26 Euro), uns am Sonnabendnachmittag ins Winterweiß gestürzt, und waren hundertfünfzig Kilometer von Frankfurt ins Grenzland zwischen Baden und der Pfalz gegondelt. Was man als „Fan“ eben so tut für seine Helden. Und dabei sah unsere Welt vor wenigen Jahren noch etwas anders aus - als wir zwischen 2010 und 2012 fünfmal als Marathonläufer nach Karlsruhe und Kandel kamen... Während in Karlsruhe heute gedoomt wurde, fanden im Bienwaldstädtchen Kandel Kundgebungen in Zusammenhang mit der Ermordung einer Fünfzehnjährigen durch einen Flüchtling statt. Gottlob blieb die badische Seite des Rheins unberührt. Welch´ eine Rückkehr... Der Konzertort Jugend- und Begegnungszentrum „Jubez“ - ein funktionaler Ziegelklotz aus den Achtzigern - war leicht gefunden: er stand mitten in der Karlsruher Innenstadt, davor hielt ein riesiger, verdunkelter Bus. Als Kulturzentrum des Stadtjugendausschusses beherbergte das Jubez neben dem Großen Saal auch unterschiedliche Werkstätten und eine Sporthalle. Im vorgelagerten Brückenrestaurant über dem Kronenplatz konnten sich die Fans zudem mit italienischem Essen und Bier auffrischen. Wehe dem, der das nicht tat. Denn drei Stunden nach Einlaß waren im Jubez die Alkoholvorräte aufgebraucht! Als Ärgernis erwies sich ferner ein Rein und Raus zwischen Konzert- und Vorhalle, das die Musiker direkt vor Augen hatten. Dreihundert Personen füllten den mit gelbem Linoleum ausgelegten Saal ordentlich auf. Vom intellektuellen Arschloch bis zum langhaarigen Kuttenträger war alles vertreten. Sogar Bekannte ließen sich in der Fremde verorten: der unter einer Schiebermütze getarnte Doompapst „Alles hat seine Zeit“ Fopp, das Damendoppel der Schweizer shEver, sowie Malin & Partner aus Offenbach - die sich nach wenigen Takten von Amenra von „dieser Kommerzband“ verabschiedeten, und Bechern und Headbangen in der von Vizediktator berieselten „Alten Hackerei“ vorzogen... bis sie von ihrem Fernbus abgeholt wurden. Die eigene „Rückreise“ sollte sich weniger behaglich gestalten. Davor lagen aber drei Stunden Konzert...
Der Grund unserer Exkursion - der grandiose, doomige Auftritt von BORIS letzten August in Frankfurt - legte pünktlich auf die Sekunde um 20 Uhr 30 los. Takeshi, Wata und Atsuo absolvierten das gleiche Programm wie vor einem halben Jahr im „Bett“, jedoch ohne die Zugabe „Farewell“. Und obwohl es dasselbe Material in derselben Reihenfolge war, schien vor meinen Augen ein anderer Streifen abzulaufen. Denn am Tag achtzehn ihrer abermaligen Kampagne zum Album Nummer dreiundzwanzig, 'Dear', verharrten Boris in einer Mischung aus exzentrischer Selbstherrlichkeit und atmosphärischem Minimalismus. Vielleicht entdeckten sie sich treu ihrer Philosophie heute nicht nur stilistisch, sondern auch in puncto Performanz neu. Die drei waren in einer Linie am Rand der sehr breiten, aber auch niedrigen und wenig tiefen Bühne aufgereiht. Während sich Frontmann Takeshi und insbesondere die Geisha Wata gewohnt distanziert von der Seite zeigten, schoß Atsuo mit einem Transenlook und thorshammerartig über den Kopf gereckten und zeitlupenhaft niedergehenden, dick ummantelten Trommelstock geradezu spektakulär übers Ziel hinaus. Dazu sang der Perkussionist mit sanfter Stimme ein Stück im Mittelteil allein. Verkitscht und anbiederisch indes wirkte das von Takeshi in die Menge gehauchte „Schönen Dank!“ gleich zu Beginn. Doch final stand ein Vorspiel, daß sich dem Hauptakt unterwarf, und gegenüber Frankfurt 2017 von 95 auf 55 Minuten gerafft war. Boris waren wie lauer Sex oder ein niedliches Postrock-Märchen im Stile ihrer Tokioter Nachbarn Mono (aber selbst die kamen stärker). In Sachen Fanartikel waren Boris heute besser aufgestellt, doch „schön“ ist nach wie vor anders. Und auch für einen einheitlichen Schriftzug konnten sich die Kinder des Sonnenballs nach einem Vierteljahrhundert nicht entscheiden. Nein, berauschend war es diesmal nicht.
AMENRA, die Post-Metal-Macht aus Flandern (gesprochen: Amen Ra, als Künstlerbund auch unter Church of Ra firmierend), waren wie Boris in rabenschwarzer Kluft aufmarschiert, und hatten ebenfalls im Vorjahr eine neue Schallrille aufgenommen. Es war die Nummer achtzehn des Quintetts aus Gent, der Titel 'Mass VI' (meint die Anzahl an Longplayern) soll die Zuhörer auf eine Odyssee durch die religiösen, ethischen und ästhetischen Ansichten der Church of Ra führen. Mitreißende Rhythmen der Moderne wurden hier mit der ursprünglichen Kraft spiritueller Klänge verflochten. Die Auftritte von Amenra sind in der Regel sehr eindringlich und bildgewaltig geprägt von düsteren Filmprojektionen. Während sich die Herren van Eeckhout, Vandekerckhove, Bossu, Seynaeve und Lebon auf der verdunkelten Kanzel die Ehre gaben und das Auditorium andächtig lauschte, saß ich auf einem Stuhl im letzten Eck und versuchte, so was wie ein Gefühl zu erhaschen. Aber der fremde Ort fiel auseinander, und alles versickerte im letzten Schluck der Privatbrauerei Hoepfner. Amenra kamen in keiner Sekunde an die doomige Tiefe ihrer beneluxischen Landsmänner Hemelbestormer ran, erst recht nicht an die adrenalintreibende Körperlichkeit von Downfall of Gaia. Was war das? Pseudosubtiler Post-Metal-Mummenschanz nach allzu bekanntem Rezept? Oder nur Dienst nach Vorschrift ganz ohne frische Einfälle? Während meine Adjutantin zumindest mit Boris zufrieden war, blieb ich vollständig ratlos......
.:: ABSPIELLISTEN ::.
 
BORIS
(20.30-21.26)
Intro Dystopia -Vanishing Point-
1. D.O.W.N. -Domination of Waiting Noise-
2. DEADSONG
3. Absolutego
4. Beyond
5. Kagero
6. Biotope
7. The Power
8. Memento Mori
9. Dystopia -Vanishing Point-
10. Dear
 
AMENRA
(22.22-23.01)
1. Boden
2. Plus Près De Toi (Closer to You)
3. Razoreater
4. Diaken
5. Nowena | 9.10
6. Terziele
7. Am Kreuz
8. Silver Needle. Golden Nail
Der Abend war mies, doch es kam noch viel, viel schlimmer - auf unserem nächtlichen Heimweg nach Frankfurt... Nach einer Hinreise in der lichtgebadeten Korova-Moloko-plus-Bar eines Doppelstockwagens des französischen TGV auf dem Weg gen Paris, erfolgte der Rücktransport auf der Balkanroute östlich des Rheins in einem D-Zug aus den Achtzigern. Zwei Stunden eingesperrt in einem engen Wagen voller Schmutz und Ungeziefer, ohne Verpflegung und Getränke, ständig von Übergriffen bedroht (schon beim Aufbruch in Karlsruhe), ein langes, zähes Ausharren um Erlösung, aber zur Not blieben uns Doomfans ja die Erinnerungen... Sayonara, Boris!... Als wir zwei Uhr nachts den Frankfurter Hauptbahnhof erreichten, schloß draußen in der Eiseskälte der Nachtbus gerade seine Türen. Der Plan, die Kultkneipe „Moseleck“ zu beglücken und vom Bahnhofsviertel per Taxi heimzukommen, scheiterte, da bei unserer Annäherung ein Rollkommando der Polizei eine Horde unangenehmer Erscheinungen kinoreif mit gespreizten Armen und Beinen an die Wand gestellt hatte (Frankfurt, Deutschland, um zwei Uhr zwanzig nachts...). Wie durch ein Wunder gingen wir um drei - fünf Stunden nach dem letzten Tropfen vor Amenra - unbeschadet aus der Nummer heraus. Der starke Hang zur Doommusik bleibt, Reisen für „Bands“ aber sind für mich vorbei!
 
 
((((((Heiliger Vitus)))))), 6. März 2018