DISTILLED & BOTTLED FEST
 
EXCESSIVE VISAGE, DISTILLED ORCHESTER (CHIMAERA, UR, GRIMÉNY, P:HON), DINO JOUBERT, LORD GECKO
D-Dresden, Scheune - 25. November 2017
Aufmerksam auf das „Distilled & Bottled“ wurde ich durch ein Konzi der Postrocker Eyes Of Emerald Green im Sommer in Dresden. Deren Gitarrist Robert fungiert als Veranstalter experimenteller Musik und ist Teil von „Distilled & Bottled“, einem Bund aus elf Dresdner Gruppen, die durch den Lauf der Dinge auf andere Städte verstreut wurden, und sich einmal im Jahr zu einer Werkschau zusammenfinden - um ihre Destillate im „Orchester“ abzufüllen. Da diesmal neben dem Drone-Projekt Chimaera auch die Sludge-Doomer UR dazugehörten, war Roberts Einladung für Doom-Süchtige Befehl, und der Eintritt (Hardtickets zu 15 Euro) vor langer Zeit gesichert. Doch dann sollte Frl. Peanut und mir höhere Gewalt in die Suppe spucken: In Naumburg hatten Kabeldiebe zugeschlagen und die Umleitungsroute der ICE-Ferntrasse Frankfurt-Dresden lahmgelegt. Ab Freitagmittag rollte kein Zug mehr nach Osten. Dadurch trafen wir nach einer ungewollten Nacht in Frankfurt verspätet in Dresden ein. Der Platz vorm Kulturtempel „Scheune“ - früher das Herz des Szeneviertels Neustadt, zuletzt jedoch ein multikrimineller Filz - zeigte sich von einem Mannschaftswagen der Polizei gesäubert. In der Scheune selbst tummelten sich anfangs spärliche dreißig Besucher. Ein umso üppigerer Stand mit allen erdenklichen Devotionalien zierte den Bereich neben der Bar.
LORD GECKO blieben uns nach den Schikanen des Vortags komplett verwehrt. Die Dresdner mit den Spitznamen Leccovi waren 19 Uhr gestartet, und hatten aus Trash, Lady Gaga, Acid Techno und Volksmusik sinnbefreiten, aber unterhaltsamen Experimental-Rock gemacht. Leicht stonerig soll dieses Gemenge im knallgasbunten Second-Hand-Gewand auch gewesen sein.
Um acht hatte sich der Berliner Liedermacher DINO JOUBERT mit seiner Flamme Alina Gropper zu einem dreiviertelstündigen, intimen Streicher-Piano-Duett in einer Nische im Obergeschoß vereint. Sie selbst nannten ihn Dracula-Folk-Pop, jenen gefühligen, sehr poetischen, jedoch für den Betrachter nicht sonderlich stimulierenden Liebesreigen im Schatten der Bar. Gropper & Joubert verliessen ihr kleines Podium unter - keck gesagt - tosendem Applaus.
 
Im Zentrum aller Betrachtungen stand das aus den Gruppen Chimaera, UR, Grimény und P:HON geformte DISTILLED ORCHESTER, das angetreten war, als „Super Power Ranger“ die Welt zu retten, und dafür den Großen Saal bekam. Im halbierten Zuschauerraum standen nun achtzig Unterstützer. Neben einem Spiegelball rankten sich vor der Bühne Zweige von der Decke herab. Zentral im Vordergrund des Gevierts waren Chimaera postiert; im Hintergrund links standen Grimény, rechts die großgeschriebenen UR. Der Auftritt bestand aus zwei Teilen. Der erste hatte eine Laufzeit von 62 Minuten, der zweite währte 28 Minuten. Dazwischen lag eine viertelstündige Pause. Mit den im Off gesagten Worten „Hello! This is not Chimaera, this is not Ur, this is not Grimény - this is a new creature of all and more!“ wurde das Ganze eröffnet. In der genannten Reihenfolge lieferten nun die Gruppen einzeln ihre Stücke ab, während sie von den Mitgliedern der übrigen Gruppen mal marginal, mal nur durch die bloße Präsenz auf der Bühne unterstützt wurden - um sich einem Chamäleon gleich unter zig Wandlungen immer neu zu erfinden. Meist standen sieben Akteure auf der Bühne, dann wieder ächzte sie unter einer Frau und neun Männern. Manche standen wie in einer Andacht armverschränkt am Rand, manche meditierten in innerer Versunkenheit auf einem Stuhl, andere wandelten wie vom eigenen Einsatz betäubt den Korridor vor der Bar auf und ab.
Eine federleicht schwebende Sequenz der zierlichen, kinesiogetapeten Geigerin Gropper leitete um 21 Uhr 20 den Part der Dresdner Drone-Doomer Chimaera grandios ein. Niemand traute sich ein Wort auch nur zu flüstern im mucksmäuschenstillen Einklang. Darauf entwickelten sich die feinfühligen Gitarren von Sieber, Holzmann, Hiekel. Nach einem gehörigen Spannungsaufbau hatten wir eine zeitlupenhaft dröhnende Klanglandschaft von hoher Empfindlichkeit. Einen Fluß, der so gemächlich und trotzdem unterschwellig bedrohlich dahinströmte und mäanderte wie die Elbe. Immer wenn die barocke Violine einsetzte, versank diese Welt in tiefem Frieden. Zuweilen britzelten postrockig gefrickelte Saiten auf: die smaragdgrünen Augen von Emerald Green. Weite Teile des Orchesters lagen in der Hand der Schimären. Nach der großen Leichtigkeit durch die Stücke „IX“ und „V“...
 
… wurde es massiv. Die nach dem ausgerotteten Urtier Auerochs benannten Sludge-Doomer UR glitten übergangslos in ihren Teil hinein. Langsame, tiefe, schwere Trossen durchsetzt mit urzeitlichem Geröchel - den einzigen Lauten aus Menschenmund im gesamten Orchester - übernahmen das Kommando. Das aus Dresden, Görlitz und Leipzig stammende Kommando hatte seine beiden zum Verwechseln ähnlich aufgemachten Tonwerke 'UR' und 'Grey Wanderer' dabei. Letzter war erst vor zwei Wochen aus der Droneburg gerollt und erinnerte an harte Endzeitvisionen wie die von Switchblade oder Conan. Liebend gern hätte ich UR nicht bloß in Ausschnitten, sondern pur in einem erlebt. So gingen Paul, Machate, Weise und Ritter im „Orchester“ fast etwas unter. Auch wenn die dunkelsten Seiten unausgeleuchtet blieben, ließen die 2010 formierten UR einiges erahnen.
 
In der Troika Lang, Meutzner und Vetter standen nicht nur die Strippenzieher des Fests, nein, mit der vollen Wucht aus zwei bumsenden Bässen, einem schiefen Sechssaiter, einer skurrilen Kopfbedeckung und bizarren Titeln wie „Der gelbe Schrecken“, brachten die Experimentalrocker Grimény aus Berlin, Köln und Dresden auch einn Kontrast in die düster-meditative Sache. Mit ihrer Fulminanz und diffusen Gefühlen ließen Grimény an die stonerigen Progrocker Beehoover denken. Grimény waren alles andere als „Die große Enttäuschung“, die sie selber glaubten zu sein. Knackend voll mit kraftvollem Groove beschlossen die „Grimmigen“ den ersten Akt des Orchesters. Nach kurzer Unterbrechung...
... kehrte es zum Sequel zurück. Das begann mit einer Überraschung: Denn eine vierte Gruppierung nannte sich P:HON. Nach unüberwindbaren Kontroversen, die bis heute anhielten, spielten die einst sehr aktiven Postrocker aus Cossebaude nach sieben Jahren in leicht veränderter Besetzung wieder mal zusammen. Das war möglich, weil die entscheidenden Leute bei Chimaera, UR und Grimény aktiv sind. Womöglich blieb das eine Lied - „Dried You Lie There“ - auch eine einmalige Geschichte. „P:HON“ wird es jedenfalls nie wieder geben, deshalb tauchte der Name auch nirgends auf. Der zweite Akt der Super Power Ranger fiel kurz und knackig aus. Fragmente aus Post, Drone und Avantgarde führten zu einer Zuspitzung auf ganz hohem Niveau, die mit dem von neun Männern zelebrierten UR-Titel „The Rift“, einem alles niederreißenden Doom-Koloss von nahezu einer viertel Stunde, um 23 Uhr und 6 Minuten ausklang.
 
Der Auftritt des Orchesters konnte unterschiedlich aufgenommen werden, als Machtdemonstration gefeiert oder als Vermischung verdammt werden. Die letztliche Präsentation ließ beide Auslegungen zu. Sie zeigte wie der Einzelne in der Masse aufgeht, aber auch die Macht der Masse. Das „Distilled Orchester“ ragte jedoch aus den dick aufgetragenen „All-Star-Bands“ genauso heraus, wie aus den drögen „Metal-trifft-Klassik“-Orchestern. Weil es ehrlich und nicht wie ein Produkt wirkte. Wie die unterschiedlichen Stile, die guten Typen und der stimmungsvolle Ort mit intimem Fluidum und echtem „Showdown“ zusammenfanden, war einfach ganz große Klasse.
.:: ABSPIELLISTE DISTILLED ORCHESTER ::.
(21.20-23.06)
 
Teil 1
1. Chimaera - IX
2. Chimaera - V
3. UR - Grey Wanderer (mit Larissa + Torsten)
4. UR - Condor (mit Chimaera)
5. Grimény - Der gelbe Schrecken (mit Chimaera)
6. Grimény - Remény (mit Rafael)
7. Grimény - Viktoriastadt (mit Chimaera)
8. Grimény - La (mit UR)
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Teil 2
1. P:HON - Dried You Lie There
2. Chimaera - XV (mit UR)
3. Chimaera - II
4. Chimaera - XIV (mit Grimény)
5. Grimény - Raubbau (mit Chimaera, Broiler + Rafael)
6. Grimény - Tükl-12 (mit UR + Broiler)
7. UR - The Rift (mit allen)
Um 0 Uhr 17 folgte noch ein Gruppenbild mit Lady. Die Knaben von EXCESSIVE VISAGE wurden von Larissa Blau gefrontet. Excessive Visage waren Psychedelic-Rocker mit Keyboard und einem Hauch Pop und Avantgarde, die heute ihr Album 'You Are Lost Anyway' vorstellten. Man konnte es auch eine „Record-Release-Show“ nennen. Dominiert wurde der adrette Fünfer aus Dresden und Berlin von Fräulein Blau, die zwar eine erotische Gretchenfrisur trug und ordentlich Feuer unterm Po hatte, aber auch sichtlich von Lampenfieber geplagt schien. Nach drei etwas verworrenen Liedern konnte sie sich frei machen. Doch da mußten wir los...
 
... raus in eine ungemütliche Novembernacht... zur letzten Straßenbahn nach Pieschen. Nach unserer aufreibenden Reise und dem verlorenen Anfang hatte ich die Klangkünstler in der Scheune eigentlich gestrichen - und wollte die zu später Stunde in Radebeul steigende, zweijährige Geburtstagsfete von „Elbsludgebooking“ beehren. Dort doomten vor 72 Zahlenden die Stoner- und Sludge-Horden Legalize Crime, Kalamata und Eremit. Die Entscheidung für das anrührend locker und herzig prickelnde „Distilled & Bottled“ war goldrichtig. Der vergrippte Toni „Goat ov Pike“ Ziegenbalg sah das ebenso.
 
 
Heiliger Vitus, 7. Dezember 2017