7. AWH-Straßenradrennen
Halle-Lochau, 3. Oktober 2021
Prolog
 
Kann man eine verseuchte Landschaft als Schauplatz für ein Radrennen nutzen? Die idealistischen Macher der SG Motor Halle und des Eisleber Radclub Mansfelder Land hatten es mit dem „AWH-Straßenradrennen“ schon sechs Mal bewiesen. Ein abgesperrtes Gelände wie eine Mülldeponie bietet gute Möglichkeiten für kleines Geld (wenngleich ein Veranstaltungstitel wie „Rundstreckenrennen um den Preis der Stadtwerke Halle“ mehr Romantik versprüht). Die siebente Austragung war eines der letzten Straßenrennen im deutschen Radkalender, Namens- und Geldgeber die Abfallwirtschaft Halle (AWH). Die ersten Drei wurden mit Pokalen geehrt, bis Platz vier gab es Preisgeld: 40, 30, 20 und 10 Euro.
.:: DIE STRECKE ::.
Gefahren wurde auf der mit 95 Meter über NN einzigen Anhöhe weit und breit: der im alten Kohleland südöstlich von Halle errichteten und 2005 stillgelegten Mülldeponie Lochau. Die Rennstrecke führte auf einer namenlosen asphaltierten Ringstraße am Rand der riesigen Grube entlang. Wind und ein selektiver, 500 Meter langer Anstieg mit bis zu zwölf Prozent ausgangs jeder Runde, waren die Herausforderungen. Siebenmal mußten die Masters 4 über den 5,8 Kilometer langen Rundkurs fahren, ehe der Sieger auf dem schmutzigsten Mont Ventoux Sachsen-Anhalts feststand.
.:: DAS RENNEN ::.
Meine Nacht war kurz und schlecht. Im stockdunklen Morgen mußte ich eine Entscheidung zwischen zwei völlig unterschiedlichen Rennrädern fällen. Schwan oder Rabe? Mit welchem fahren? Mit einem Cube, dessen Rahmen an einen Schwan erinnert: gleitend, leicht und mit komfortabler Elektroschaltung (aber nach vier Jahren alt und häßlich)? Oder dem rabenschwarzen De Rosa: schön wie eine italienische Madonna (aber mit dem Nachteil einer mechanischen Gruppe)? Es wäre dessen Feuertaufe gewesen. Die Entscheidung fiel auf den Schwan. - Nach einer Fahrt über eine freie Autobahn hatte mich mein Mädel zum Schauplatz östlich von Schkopau gebacht. Schlechte Luft und die rauchenden Schlote der 1936 errichteten Buna-Werke wiesen den Weg. Die Luft war ganz anders als im hundertfünfzig Kilometer entfernten Dresden. Derweil im nahen Halle die Feiern zum „Tag der Deutschen Einheit“ stiegen und sich Politiker unter der Sonne Mitteldeutschlands aalten, trafen wir am Rennort Berliner Straße 100 auf eine postapokalptisch wirkende, von kahlrasierten Äckern und unwirklicher, geradezu gruseliger Stille umringte Müllhalde in der Wildnis Mitteldeutschlands. Nur eine Handvoll Sportler zeugte von Leben. Das Verdeck mit der Anmeldung war eine Stunde vorm Start noch im Aufbau. Ein Veteran mit Diamant-Rennrad aus den frühen Achtzigern der DDR kreuzte als Zaungast auf. Ein Jüngling staunte „Cool, ey!“...
Mit fünf Minuten Verspätung wurde um 9.37 Uhr die Schar aus achtzehn Masters-4-Männern und zwei Mädeln zu einem sehr zweifelhaften Vergnügen von der Leine gelassen. Es wehte eine stramme Brise, die Lungen füllten sich mit vergifteter Luft und Staub. Meine Frau berichtete später von einer Staubwolke, die von einem Hügel wehte und ihr regelrecht den Atem nahm; sie mußte sich sogar den Arm vors Gesicht halten. Eine Zuschauerin redete von „nassem Zement“ der angrenzenden Strabag... Alles hier starrte vor Chemie und Verwesung! So ging es los. Nach einer langen Start- und Zielgeraden bog die Route auf die sechs Kilometer lange Deponierunde ein. Nachdem sich die ersten beiden der insgesamt sieben übernervös anfühlten, begann mit der Erklimmung des 500 Meter langen Anstiegs eingangs Runde drei eine Art Ausscheidungsfahren. Ich fühlte mich gut, hatte mir ein Bild gemacht, wußte, wo heikle und windanfällige Passagen sind. Aber Wind blies überall. Zudem lauerten nach einer 800 Meter langen Schußfahrt vom Rand zur Sohle der Grube Verwerfungen im Asphalt. Das Beste war wie immer, das Heil in der Flucht zu suchen. Die ideale Stelle für einen Angriff bot sich ausgangs des ruppigen Steilstücks. Hier waren die meisten angeknockt, ohne große Anstrengung Lücken aufgegangen, die Reihen nach und nach dezimiert. Aber auf den langen Geraden gegen den Wind und immer im Blick der Meute konnte ich mich nicht entscheidend absetzen. Auch nicht zusammen mit dem Luckenwalder Mirbach, der mir vorschlug: „Ich attackiere am Berg, und du fährst oben weiter.“ In der vorletzten Runde hatte ich allein hundert Meter rausgefahren. Aber da waren es noch acht Kilometer bis Ultimo... So verstrich Runde um Runde, Anstieg um Anstieg. Siebenmal war das Gefälle hinab zur Sohle der Grube, die tückischen Löcher in der Senke, und der Knüppel wieder hinauf zu überwinden. Dann war die letzte Chance verpufft. Beim letzten Mal ging es auf halber Höhe leicht links weg in eine Schlußsteigung - der die Pointe in Form der 600 Meter langen Zielgeraden folgte. Mangels Streckenkenntnis hatte ich im letzten Anstieg mit vollem Krafteinsatz attackiert, bog mit zwei Radlängen Vorsprung auf die Zielgerade ein - - und mußte dafür bluten. Sechs preschten an mir vorbei, einer aus dem Harz, der das ganze Rennen am Hinterrad gelutscht hatte, siegte. Bitter verlief das Rennen auch für Kraftsprinter Großegger, der bei seinem Heimrennen im Endspurt der achtköpfigen Spitzengruppe sogar von der blutjungen Schoppe überspurtet wurde, die mangels weiblicher Konkurrenz bei den Masters mitfahren durfte. Ich habe mich wahnsinnig geärgert, hätte es allein versuchen sollen! Heute hätte ich SIEGEN MÜSSEN!
Epilog
 
Im Nachlauf saßen Peanut und ich mit den beiden Strippenziehern der SG Motor Halle bei Kuchen und Bier zusammen. Wir erfuhren vom Niedergang des Radsports in Sachsen-Anhalt, davon, daß bei der letztjährigen Landesmeisterschaft in mancher Klasse nur zwei am Start standen, und Radtouristikfahrer mittlerweile lieber eigene Rennen austragen. Der Tag endete mit einem „Deal“. Grossi wollte sein Tarmac-Rennrad verscherbeln. Wir sollten ihm im Auto folgen. Er wohnte nicht weit entfernt in einem Idyll unter uralten Bäumen an einem Altarm der Saale. Dort wurden wir von Mücken geplagt, und landeten auf der Rückfahrt in einem nicht enden wollenden, löchrigen Schotterweg übers Land. Ich äußerte Zweifel an einer weiteren Rennsaison im neuen Jahr. Grossi mutmaßte höhnisch lachend: „Du kannst doch gar nicht aufhören!“ Aber vielleicht war der Ritt auf dem Schwan zugleich der Schwangesang......
 
 
Danke und Grüße

 
Den Organisatoren der SG Motor Halle und Eisfelder RC Mansfelder Land für diese idealistische Geschichte
Grossi für viele Einblicke - auch ins Seelenleben
Peanut für einen neuerlichen Chauffeurdienst hunderte Kilometer über die Autobahn, dem achten in diesem Jahr!
Meine Mutter für den Schutz aus dem Himmel
 
 
Vitus, 6. Oktober 2021; Bilder: AW Halle, Peanut
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: sonnig, 17ºC, mäßiger Wind (19 km/h) aus Südsüdost
Typ: Rundstreckenrennen
Länge: 41 km
 
Am Start: 74
Im Ziel: 72 (Masters 2: 21, Masters 3: 13, Masters 4/Frauen: 19, Jedermann: 19)
 
Masters 4/Frauen
Meldungen:
25
Am Start:
20
Im Ziel: 19
1. Uwe Neumeister (Harzer RSC Wernigerode) 1:09:01
2. Hans-Peter Grünig (Harzer RSC Wernigerode)
3. Olivia Schoppe (RSV AC Leipzig)
4. Frank Mirbach (RTS Luckenwalde)
5. Marco Großegger (SC DHfK Leipzig)
6. Norbert Dunschen (RSV Sturmvogel Bad Neuenahr-Ahrweiler)
7. Geist Vitus (Dresdner SC 1898)
 
Ergebnisse

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