58. ESCHBORN-FRANKFURT
1. Mai 2019
STRECKE ¤ VORBEREITUNG ¤ RENNEN ¤ STATISTIK
Prolog
 
Mein zweites Radrennen nach der Wiederkehr auf dem Sachsenring kam durch die geheimnisvolle Macht des Zufalls zustande: Eines kalten Wintertages hatte ich im Anstieg zum Feldberg einen Rennradfahrer eingeholt. Nicht irgendeinen. Nein, einen verarmten Adeligen! Moritz Graf zu S. war nicht nur passionierter Cyclist, er betrieb zusammen mit dem Schweizer Yello-Musiker Meier auch ein argentinisches Restaurant in Frankfurt - und er trainierte für das Radrennen ESCHBORN-FRANKFURT. Ruckzuck war ich angesteckt, und in den Folgewochen sollten wir noch etliche Trainingsfahrten im Taunus unternehmen. Graf Moritz fuhr gern mit mir... immer wenn es die Zeit erlaubte.
 
Eschborn-Frankfurt ist ein Rennen mit langer Tradition. Es wurde erstmals 1962 ausgetragen und war als RUND UM DEN HENNINGER-TURM lange Deutschlands einziges Weltcuprennen. Nach dem Tod der Gründungsbrüder Moos und der Übernahme der Brauerei „Henninger“ durch „Binding“ wechselten Veranstaltungsname und Start- und Zielorte über die Jahre häufig. Wobei „Rund um den Henninger Turm“ irreführend war. Denn das Rennen verlief überwiegend durch das Taunusgebirge im Norden von Frankfurt. Es endete aber immer nach mehreren Runden um den Henninger-Turm. Nach dem Rückzug von Henninger und dem Einstieg der Städte Frankfurt und Eschborn, fand das Rennen 2009 als „Eschborn-Frankfurt City Loop“ statt. Start war in Eschborn, Ziel im Trabantenviertel Riedberg; nur die Schleife durch den Taunus blieb erhalten. Dann wurde es bizarr in „Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt“ umgetauft und endete an der Alten Oper in Frankfurt. Das dunkelste Kapitel schrieb das Jahr 2015 mit einem geplanten Terroranschlag und der bislang einzigen Absage. Nachdem das Rennen lange aus dem Weltcup gestrichen war, stieg die 56. Ausgabe als „Rund um den Finanzplatz“ wieder zur Ehrenkategorie des Weltverbands UCI auf - um letztlich durch den Tour-de-France-Veranstalter ASO neu aufgelegt und in „Eschborn-Frankfurt“ umbenannt zu werden.
 
Mit RUND UM DEN HENNINGER-TURM - benannt nach dem ehemaligen Wahrzeichen der Brauerei, dem inzwischen abgerissenen hohen Silo mit drehender Turmschänke - hatte ich seit den Achtzigern immer wieder ganz spezielle Berührungen. Die erste stammt aus dem Jahr 1985, als ich nah am Mainufer wohnte, beim Zielberg Hainer Weg in Sachsenhausen als Mechaniker im „Fahrradlädchen“ schraubte, und manchmal auch gleich beim Chef im Laden nächtigte (mit dem ich nicht nur gemeinsam von der Alten Brücke in den Main gepinkelt habe). Aber eigentlich kannte ich das Frankfurter Bierrennen schon lange vorher - durch die DDR-Zeitung „Der Radsportler“, die wir voller Ehrfurcht verschlangen. Besonders eingeprägt haben sich für mich der Sieg von Jean-Marie Wampers 1986 und die hautengen Vorbeifahrten des gedopten Toursiegers Bjarne Riis 1997. Im Jahr davor war mein Ex-Trainer mit den Junioren vom Dresdner SC am Start. Ich durfte mit meiner Freundin das Feld im Mannschaftsbus begleiten. Dazu führte die Strecke alljährlich direkt vor unserer Haustür vorbei. Hunderttausende machten das Radrennen am ersten Mai zu einem Volksfest mit Kuchen und Bier. Der Rest hing vorm Fernseher. Stablinski, Altig, Merckx, Maertens, Knetemann, Baronchelli: alle haben im alten Sachsenhausen gewonnen. In den Anfangsjahren kamen Antrittsprämien im Umschlag: tausend Mark an Altig - zugesteckt von der Gattin des Ausrichters. Bei der Austragung 1970 lag der Feldberg unter Schnee. Das waren Zeiten...
 
Die Zeiten als Radrennen Fahrern mit einer gültigen Rennlizenz vorbehalten waren, sind Geschichte. Inzwischen haben sich „Jedermannrennen“ etabliert und üben einen starken Reiz auf ambitionierte Freizeitsportler aus. In Frankfurt war dies 2006 soweit: In dem Jahr fand vorm Rennen der Profis erstmals eins der radbegeisterten Amateure statt (böse Zungen sagen: 2006 begann die kommerzielle Ausschlachtung). Seit 2012 existieren die „Velotour Skyline“ über 40 Kilometer ohne die Anstiege im Taunus und nicht durch Frankfurt; die „Velotour Express“ über 87 Kilometer mit dem Taunus, aber ohne Mammolshainer Berg; und die „Velotour Classic“ über 100 Kilometer auf der Strecke der Profis, aber ohne Ziel in Frankfurt. Je nach Meldephase kostete der Start zwischen 50 (Early Bird) und 90 Euro (Nachmeldung). Die Organisation freute sich über sechseinhalbtausend Pedalritter und einen Etat von 1,3 Millionen. Erstmals nach elf Jahren übertrug neben dem Hessenfernsehen auch Das Erste das Rennen in voller Länge live.
 
.:: DIE STRECKE ::.
1700 Höhenmeter verteilt auf 100 Kilometer Länge, die ikonischen Anstiege Feldberg, Kittelhütte, Ruppertshainer und Mammolshainer Berg - und das auf den Straßen, die auch die Profis fahren: Die Velotour Classic ist eine echte Herausforderung. Von Eschborn ging es zunächst flach nach Frankfurt auf einen technisch anspruchsvollen Stadtkurs zwischen den Türmen des Frankfurter Bankenviertels, über den Main nach Sachsenhausen, zurück in die Innenstadt und in nördlicher Richtung zum Taunus. Nach dreißig Kilometern erreichte das Peloton das Taunus-Städtchen Oberursel. Nun führte ein „Rollerberg“ mit sechs Prozent Steigung auf einer Länge von acht Kilometern zur Paßhöhe vom Sandplacken, und über drei weitere Kilometer mit zweistelligen Steigungsprozenten bis unter den Gipfel des Feldbergs. Von dort oben ging es in raserischer Schußfahrt - gespickt mit Schlaglöchern, Kurven und immer wieder kurzen, schmerzhaften Biestern - über die Taunusgemeinden Niederreifenberg, Oberems, Glashütten und Schloßborn zum zwei Kilometer langen Ruppertshainer Berg. Durch Fischbach kamen die Fahrer ins Rhein-Main-Gebiet. Eingeleitet von Kelkheim folgen Schlag auf Schlag Sulzbach und Schwalbach, bevor man es nach 88 Kilometern mit dem Mammolshainer Stich zu tun bekam. Schon die kilometerlange Zufahrt ab Kronthal hat es in sich - ehe der Weg nach rechts abzweigt und sich eine Mauer mit 23 Prozent vor einem auftürmt. Nach diesem Spektakel geht es immer weiter bergauf nach Königstein. Über Kronberg kehrten die Fahrer auf breitem Asphalt schließlich nach Eschborn zurück. Das Rennen der Elite über 187,5 Kilometer mit 3222 Höhenmetern ging auf einer neuen Schlußrunde mit Ziel unterm Opernturm im Zentrum der hessischen Metropole zu Ende.
 
.:: DIE VORBEREITUNG ::.
Zusammen mit dem Sportinstitut „IQ Athletik“ hatte die Orga ein 15-Wochen-Programm für Fortgeschrittene bereitgestellt. Jener diente mit drei Wocheneinheiten als Orientierung und war individuell anzupassen. Nicht zuletzt durch das unberechenbare Wetter und mein Pendeln zwischen Dresden und Frankfurt übte ich weitgehend frei. In den fünfzehn Wochen vom 14. Januar bis 28. April hatte ich die meisten Kilometer im bergigen Taunus, in der hügeligen Wetterau, am Ufer der Elbe und im Erzgebirge absolviert. Die Rennstrecke im Taunus hatte ich ein Dutzend Mal (mindestens) unters Rad genommen, mit Partner oder allein, den Zwölf-Kilometer-Anstieg hinauf zum Feldberg mitunter jeden zweiten Tag (die Ortsdurchfahrten in Kelkheim, Sulzbach, Schwalbach, Eschborn und Frankfurt gerieten eher zu lebensgefährlichen Irrfahrten). Als Einheiten im Entwicklungsbereich sind das Gruppentraining mit dem Dresdner SC, zwei DSC-Cups auf der Radrennbahn Heidenau, zwei Trainingsausfahrten mit Radlabor Frankfurt im Taunus, und das Radrennen Rund um den Sachsenring am 20. April zu erwähnen.
 
Als Trainingsbeispiel die Woche vorm Rennen vom 22. bis 27. April:
 
Mo.: 114 km durchs Müglitztal auf den Kahleberg (905 m) und über Kreischa zurück nach Dresden
Di.: 11 km Laufen in Dresden
Mi.: DSC-Cup Bahn in Heidenau: 160 Runden Punktefahren (40 km) + 40 km Ein- und Ausrollen
Do.: 65 km lockeres Pedalieren zu zweit an der Elbe
Fr.: 10 km Laufen in Frankfurt
Sa.: Trainingsride mit Radlabor Frankfurt über 61 km zwischen Mammolshain und Ruppertshain
So.: 44 km straff durch die Wetterau
 
.:: DAS RENNEN ::.
(100-Kilometer-Straßenrennen, Jedermann-Klasse)
Nach der bewährten Masche der großen Marathonläufe begann „Eschborn-Frankfurt“ am Vortag mit der Nummernausgabe. Dafür war das Hotel „Best Western“ am Rande der Betonwüste Eschborn-Süd angemietet. Nach himmelhohen Glastürmen, schnieken Anzugträgern und auch einem Freudenhaus, fand es sich auf einer autobahnumschlungenen Wiese im Nirgendwo. Wer mittags erschien, purzelte dort in eine andere Welt: einen Kosmos aus Rennradverrückten und den Pavillons der Rad-Expo. Kurz nach eins hielt ich meinen Starterbeutel aus lindgrünem Nylon in der Hand. Darin lagen neben den Startnnummern für Trikot und Lenker und einem Transponder für die Sattelstütze weiße Armlinge, vier Getränke, zwei Gutscheinhefte, eine Trinkflasche und ein kleines Rücklicht. Im Außengelände verteilten die italienischen Laufradausrüster von Vittoria Mützen in den Farben der Trikolore. Bei Sigma wiederum lagen das originell gestaltete „Roadbook“ und Oberrohraufkleber mit dem Streckenprofil aus. Die Pastaparty lockte mit Gnocchi, Nudeln und entschärftem Bier soviel der Bauch fasste... Wieder zuhause in Frankfurt, konnte ich in den Abendstunden mit der Hilfe des lokalen Radladens gerade noch ein Bremsproblem reparieren. Nach einer schlaflosen Nacht zuvor verlief die Nacht vorm Rennen somit zwar kurz, aber ruhig. - Die Anfahrt am kalten Maimorgen erfolgte mit der S-Bahn. Eine Stunde vorm Start traf ich in der Aufstellung am Möbelhaus „Mann Mobilia“in Eschborn ein. Nach meiner Meldezeit zwischen 33 und 34 Stundenkilometer war ich dem vierten von zehn Blöcken zugewiesen. Da die Reihenfolge des Zieleinlaufs über die Platzierung entschied, war ein vorderer Platz aus dieser Ausgangsposition von vornherein vereitelt. Dafür verlief in diesem Block alles in einer lockeren, kameradschaftlichen Stimmung. Der Blick traf auf die Tarnfarbenjerseys der rockenden Radguerilla Guilty 76 Racing. Das zweite Monument für mich im zweiten Rennen nach ewiger Versenkung, zum erstenmal bei Rund um den Henninger-Turm: Was man dabei so fühlt? Undefinierbar!
Mit sechsminütiger Verzögerung erfolgte um 8 Uhr 51 auf der Elly-Beinhorn-Straße die neutralisierte Phase und dann der scharfe START in der Sossenheimer Straße. Es war kein Start, wie ihn der Lizenzfahrer kennt, sondern ein größerer, kribbeliger, mit unkontrollierbaren Abständen, eine Myriade aus sechstausend Menschen mit Rennrädern. Im Unterschied zum Raketenstart auf dem Sachsenring vor zehn Tagen verlief der Auftakt von Eschborn vorbei an einer Apfelweinkelterei über Ackerland nach Frankfurt eher gesittet. Trotzdem standen schon manche mit Defekt am Rand. Und gleich mit der Ankunft in der Mainmetropole begannen auch die Turbulenzen in so einer gigantischen, völlig unübersichtlichen Masse, in der auch immer Rennradfahrer sind, die nicht fahren können. Die erste Gefahrenstelle lauerte an der Hauptkreuzung von Rödelheim, auf die diese Stampede mit hoher Geschwindigkeit zusteuerte. Kurz darauf passierte ich im Trikot des Dresdner SC meine frühere Wohnung. Nach dem Stadtteil Hausen und dem leichten Anstieg über die Breitenbachbrücke, flogen in Bockenheim die ersten auf die Schnauze. Vorderräder hatten sich in den Schienen verfangen, Trinkflaschen kollerten über den Asphalt. Die Herausforderung bestand auch darin, daß vor jeder Kurve wilde Positionskämpfe stattfanden. Jeder wollte möglichst sicher rumfahren, denn ein Sturz im Fahrerfeld und entsprechende Kettenreaktionen konnte schnell das Ende aller sportlichen Träume bedeuten! Das Spektakel mit über vierzig Klamotten durch die engen, dunklen Wolkenkratzerschluchten von „Mainhattan“ über die Untermainbrücke nach Sachsenhausen und über die Alte Brücke wieder zurück in die Innenstadt, begann nach zwölf Kilometern. Ein echter Belastungstest für die Nerven. Ich griff so tief und fest in den Unterlenker wie es nur ging. Mit dem Verlassen Frankfurts auf der Stadtautobahn in nördlicher Richtung über Eschersheim, Heddernheim und Niederursel - schon den Taunus vor Augen -, hatte sich das Peloton zerhackt. Der erste von vielen Anstiegen folgte in Oberursel nach der Weingärtenumgehung hinauf zum Borkenberg - eine knackige Rampe...
... bevor am 35. Kilometer an der Hohemark die Kletterpartie auf der „Kanonenstraße“ zum heiligen Berg des Taunus begann. Schon nach einem Kilometer passierten die Fahrer vorm Haus eines Eremiten eins der vielen Holzkreuze für einen der im Feldberg umgekommenen Motorradfahrer. Das letzte steht als Gedenkstein für einen beim Feldbergrennen 1952 in der letzten Kehre, dem sogenannten „Sprungbrett“, verunglückten Motorsportler. Nach vielen Trainings in Regen, Nebel, Schnee und Eiseskälte, mit eingefrorenen Schaltzügen und Trinkflaschen, war der „Feldi“ mein Hausberg geworden. Dort kannte ich mich aus und wußte, was noch kommt... Piano, das oberste Gebot. Nach acht Kilometern mit beständiger Steigung von sechs Prozent und einem Rave-Mob in der weiten Spitzkehre „Applauskurve“, war der Sandplackenpaß mit einem Buffet erreicht. Für den Fremden scheinen die Schwierigkeiten damit gebannt. Doch er ist noch lange nicht durch! Die drei folgenden, richtig steilen Kilometer zur letzten Kehre unterm Gipfel des Taunus, sind mir nie so leicht gefallen wie heute. Dazu putschten Straßengraffiti wie RIDE ON!, F8KM (Fight km) und KETTENHUNDE auf. Der zumeist in bedrohlichem Nebel steckende, rot-weiß lackierte Sendemast auf dem kahlen Plateau schälte sich heute geradezu gemäldehaft aus den grünen Fichten und dem funkelnden Morgensonnenlicht heraus. Auf der folgenden Serpentine steil hinab zur Paßstraße „Rotes Kreuz“ und mehr oder weniger im freien Fall runter nach Niederreifenberg, zeigte mein Tacho 85 km/h an. Lag es am gut rollenden Material? Am Sitz auf dem Rahmen mit der Brust über den Vorbau geduckt? Jedenfalls konnte ich mich in jeder Abfahrt etliche Meter absetzen - die mir durch die nächste Rampe halfen. Zugleich war in den Abfahrten höchste Wachsamkeit gefordert, schrillten die Sirenen nicht nur eingangs der nächsten Kurve, sondern auch vor Straßenschäden. Über die Kittelhütte und die fröhlich gesäumten Taunusdörfer Niederreifenberg und Oberems gelangten die Fahrer in die Kerngemeinde Glashütten. Darauf zog sich ein kerzengerades, leicht abschüssiges Wellental durch den Busch. In Abfahrtsposition brauchte man hier drei Kilometer lang kaum treten. Nach einer Schußfahrt nach Schloßborn lauerte das nächste Scheusal: der „Ruppertshainer“. Der Ruppertshainer Berg beginnt als Gegenanstieg ganz unten im Silberbachtal, fängt sofort knackig an, hat im Mittelteil sechzehn Prozent, und zieht sich nach einer Rechtskurve im oberen Teil endlos lange hin. Ein wahrhaft ruppiger, barbarischer Knüppel mitten im Wald, zwei Kilometer lang, steil und mit löchrigem Asphalt. Oben beim Weißen Kreuz - auch „Passo della Croce Bianca“ genannt - stand eine Menschentraube. Eine Frau rief: „Warum tut ihr euch sowas am Feiertag an?“ Hinterm Paß stürzte sich die Straße durch eine steile Spitzkehre vorbei an der Lungenklinik „Hustenburg“ in die von abgestellten Autos, Schlaglöchern und Rissen gespickte Ortsdurchfahrt von Ruppertshain... und immer weiter talwärts nach Fischbach. Hier erreichten die Fahrer das Rhein-Main-Gebiet mit seinen engen Straßen, die meistens nach einem Gehweg nahtlos an einer Hauswand enden. Eingeleitet von Kelkheim mitsamt eines gepflasterten Stichs hinauf in eine Siedlung, folgten das Remmidemmi auf dem Sulzbacher Marktplatz „Dalles“ und die verschlafene Kleinstadt Schwalbach.
Nun war das rauhe, kilometerlange Asphaltungeheuer „Limesspange“ zu bewältigen. Es lag in Gegenwind und gab einen Blick auf die Wolkenkratzer von Frankfurt frei. An ihrem Ende folgte nach 88 Kilometern der Kultort Mammolshainer Berg. Vorm „Mammolshainer“ hatte ich vorab einen Mordsrespekt. Schon mit frischer Kraft ist dieser Anstieg eine große Probe. Es gibt nur zwei Wege: Entweder rechtzeitig aufs größte Ritzel schalten. Oder schieben. Schlangenlinien läßt die schmale Einbahnstraße nicht zu. Doch schon auf der zwei Kilometer langen, immer steiler werdenden Anfahrt wußte ich, daß mir nichts passieren wird. Im Gegenteil: Ich war von Gänsehaut überzogen - noch bevor der Weg plötzlich nach rechts wegknickte und sich aus dem Nichts diese brutale Mauer vor mir auftat, die so steil ist, daß einem ganz anders wird. Überall standen Leute, die wußten, daß es weh tut; die klatschten und jeden hinreißend anfeuerten. Unten wummerte „The Final Countdown“ aus Lautsprechern, oben im überschäumenden Hexenkessel „Highway to Hell“. Die restlichen zwölf Kilometer waren für mich (fast) besser als Sex. Selbst die anderthalb Kilometer nach dem Mammolshainer durch den Wald immer weiter hinauf nach Königstein - wo vielen der Sprit ausging, einer krümmte sich sogar vor Schmerzen über die Leitplanke -, hatte ich ein Hochgefühl.
Vom Kreisel in Königstein flogen die Fahrer auf einer autobahnähnlichen Piste vorbei am Opelzoo und über Kronberg und Niederhöchstadt aufgereiht wie in einem Mannschaftszeitfahren mit weit über fünfzig Sachen dem ZIEL in Eschborn entgegen. Auf den finalen fünf Kilometern hatte ich richtig viel Wasser in den Augen. Rennradfahren war für mich immer das Größte. Hätte ich die vergessene Liebe doch nur früher wiederentdeckt. Aber besser spät als nie. Vier Sekunden vor „Hign Noon“ kreuzte ich den Strich auf der Elly-Beinhorn-Straße - als wiedergeborener Asphaltkrieger! 3:06:32 - 100 km - 32,17 km/h. lauteten die frisch ins Metall geritzten Zeichen auf der Medaille. Mit einem Start aus dem zweiten oder dritten Block und mehr Attacke wären heute allerdings 34 oder 35 Stukis und eine vordere Stelle dringewesen. Insgesamt war mir das Rennen auch zu kurz geraten, nach dem Mammolshainer ging alles plötzlich rasend schnell zu Ende. - Eine Viertelstunde nach meiner Ankunft nahmen auf der Gegenseite die Berufsfahrer ihren Kampf auf. Sieben Ausreißer um den Franzosen Offredo sollten ihn über weite Strecken beherrschen. Unterm 170 Meter hohen Opernturm inmitten der Frankfurter Innenstadt kam es zum Massensprint. Dabei wurde der viermalige Sieger Kristoff aus Norwegen von zwei Deutschen geschlagen: Pascal Ackermann triumphierte nach einem Rempler vor John Degenkolb. Während mit dem aus Minfeld bei Kandel stammenden Ackermann erstmals nach acht Jahren wieder ein Deutscher in Frankfurt jubeln durfte, wurde der letzte deutsche Sieger und Heimstar „Dege“ diesmal im Endkampf von Krämpfen gehemmt. Von 153 Profis gaben 60 auf.
Finale
 
Über dem sonnigen, wonnigen und noch so jungen ersten Tag im Mai, zogen auch schwarze Wolken auf: Im Zielbereich traf ich den Chef vom „Velorace Dresden“, Wolfgang Friedemann. Friedemann hatte 1970 meinen Ex-Klub Dynamo Dresden-Nord zur DDR-Vizemeisterschaft im 100-Kilometer-Mannschaftszeitfahren geführt, er war Mitgründer des Dresdner SC, und seit den Achtzigern der Cheforganisator im Raum Dresden. Ohne Friedemann hätte es schon damals keine klassischen Straßenrennen mehr gegeben. Wir redeten über das Ende der Rundfahrten von Rheinlad-Pfalz, Hessen und Bayern bis zur Sachsen-Tour, sowie dem langsamen Tod der Eintagesrennen. Die Funktionäre werden immer älter und strenge Auflagen wie Streckenabsperrung und Sicherheitspersonal sind ohne Geldgeber nicht mehr zu stemmen. Heute waren 1300 Streckenposten und 800 Polizisten im Einsatz; in Frankfurt sollten Betonpoller und quergestellte Müllaster vor Anschlägen schützen. Allein die Terrorabwehr schlug mit 40
 000 Euro zu Buche. Soweit ist es in unserer Zeit schon gekommen. Dazu hält auch noch der eigene Dachverband BDR die Hand für Gebühren auf (statt selber Rennen zu veranstalten). Ein Dilemma, daß den Amateurradsport in Deutschland dem Tode weiht. „Gebt mir Geld, dann organisiere ich wieder Radrennen“, sagte Friedemann. Am Ende des Tages stellte ich mir die Frage „Für was?“. Um endlose Runden durch ein häßliches Gewerbegebiet zu drehen? Für die Deutschen Straßenrad-Meisterschaften Ende Juni war bis dato keine Strecke gefunden. Es wurde allen Ernstes über eine Ausrichtung auf den dreieinhalb Kilometern des Sachsenrings nachgedacht. Aber sechzig Mal im Kreis fahren ist kein Straßenrennen mehr.
 
Dankesworte
Moritz Graf zu S. (für den Anstoß zum Rennen und die Begleitung)
Radlabor Frankfurt (Trainingsrides im Taunus)
Dresdner SC (Schleudergänge auf der Bahn)
Peanut (Unterstützung und Opferung vieler gemeinsamer Stunden)
 
 
Vitus, 8. Mai 2019; Bilder: Sport Online, F.Pappert, Vitus
 
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: sonnig, Höchstwerte 10 bis 20ºC, schwacher Wind aus Ost
Zuschauer: ca. 500
 000 (eigene Schätzung)
 
Typ:
Straßenrennrennen (Jedermann)
Wettkämpfe: 17 (PT GT1 Elite, Jedermann, U23, Jugend U17, Schüler U15-U11, Tandem)
 
Gesamtteilnehmer:
6300 (Veranstalterangabe)
Im Ziel: 5717 (M: 5036 / W: 681)
 
Elite (187,5 km)
Am Start:
153 (22 Mannschaften, 12 von der World-Tour)
Im Ziel:
93
1. Pascal Ackermann (Deutschland / Bora-Hansgrohe) 4:23:36
2. John Degenkolb (Deutschland / Trek-Segafredo)
3. Alexander Kristoff (Norwegen / UAE Team Emirates)
4. Davide Cimolai (Italien / Israel Cycling Academy)
5. Hugo Hofstetter (Frankreich / Cofidis)
6. Baptiste Planckaert (Belgien / Wallonie Bruxelles)
 
Jedermann (100 km)
Am Start:
ca. 3000 (Veranstalterangabe)
Im Ziel:
2696 (M: 2546 / W: 150)
1. Christoph Mai (Team Strassacker) 2:31:13
2. Christian Kreuchler (BKK Mobil Oil)
3. Lucas Schäfer (RSG Gießen) + 0:52
4. Jörg Ludewig (Team Alpecin) + 1:44
5. Tom Walther (Team Strassacker) + 1:54
6. Daniel Höhn (Citec Roeltgen Team) + 2:01
793. Vitus (Dresdner SC 1898) + 35:19
Zeit: 3:06:32
Geschwindigkeit: 32,2 km/h
Platz (M/W): 793 von 2546
Platz (Master 3): 134 von 630
Platz (Gesamt): 815 von 2696

 
Preisgeld Profis
(lt. Hessenfernsehen)
Siegprämie insgesamt: 40 000 Euro
1. Platz: 16 000 Euro
2. Platz: 8000 Euro
3. Platz: 4000 Euro
10.-20. Platz: 400 Euro
 
Bergwertung (8x) insgesamt: 1500 Euro
KOM (King of Mountains, Bergkönig): 750 Euro
 
Ergebnisse

Eschborn-Frankfurt