ROHLOFF-CUP 2021 / Teil 3.3
Baunatal-Hertingshausen, 30. Juni 2021
Der Radsport ist tot, es lebe der Radsport!
 
Nachdem Radrennen aus Pandemie-Gründen mehrmals ausfallen mußten, durfte die Zweirad-Gemeinschaft Kassel im Juni im Rahmen der Coronalockerung mit dem Rohloff-Cup endlich wieder welche ausrichten. Es waren die ersten im zweiten Pandemiejahr - das Leben ging weiter. Die aus zwanzig Mittwochsrennen bestehende Rennserie wurde im Modus Kriterium und Rundstreckenrennen ausgetragen. Eine Gesamtwertung gab es nicht. Nach Absage der zwei Rennen im April und Mai blieben für die Masters 4 in diesem Jahr zwei stark abgespeckte Rundstreckenrennen mit 25 Fahrern im Juni und Juli. Beide gingen in die Rangliste von Rad-Net. Der Sieger erhielt vom Sponsor 15 Euro. Über jenen gibt es Interessantes zu erzählen: Vom Ehepaar Rohloff nach einem aus dem Nest gefallenen und im Unternehmen als „Rohloff“ großgezogen Raben benannt, stellte eine kleine Gefolgschaft in einem Pferdestall im Kassel der Achtziger als erste Neunfachketten her. Ab 1990 verbaute Italiens Edelschmiede Campagnolo Rohloffketten in ihre Gruppen. Lemond und Indurain gewannen mit diesen Ketten die Tour de France. Bis es zur Trennung von Campa kam, und Rohloff sich auf die Produktion von Kettenöl und Nabenschaltungen spezialisierte.
.:: DIE STRECKE ::.
Der 1976 errichtete Verkehrsübungsplatz in Hertingshausen hat eine Fläche von sechs Hektar, davon sind zwei Hektar Übungsfläche. Jene wird umringt von einer Asphaltellipse, zweispurig, 1100 Meter lang - die Rennstrecke des Rohloff-Cups. Hierin ging es wie auf einer Rennbahn linksrum. Gleich nach dem Start folgte eine leicht ansteigende Spitzkehre, darauf eine lange, geschwungene Gerade, bevor eine ausladende Hochgeschwindigkeitskurve in die parallel zum Hertingshausener Bach verlaufende, schnurgerade Zielgerade mündete. Schwierigkeiten bereiteten die ungewohnt späte Startzeit in den Abendstunden, die ruckelige Fahrbahn und besonders die beiden Kehren, die stark abgebremst und herausbeschleunigt werden mußten. Die Strecke war landschaftlich schön gelegen, harmonisch in die Felder, Waldstücke und die Kulisse der Habichtswälder Langenberge südwestlich Kassels eingebettet.
.:: DIE VORBEREITUNG ::.
Nach anderthalb Drecksjahren hatte ich noch mal einen Neuanfang gewagt und mich mit aller Kraft in die neue Aufgabe gestürzt. Mit der „Beförderung“ von der Masters 3 in die Masters 4 zu Jahresbeginn war ich einer der Jüngsten unter den Neandertalern. Endlich war die Chance auf Ranglistenpunkte gekommen. Bis zum zwölften Platz reichte das Wertungsschema „MSE-07“ beim Rohloff-Cup. Nur dafür hatte ich im Juni mehr als 1700 Kilometer in den Hängen des Taunus abgerissen. Mir waren neue Muskeln gewachsen, und mit knapp 75 Kilo auf Einseinundachtzig und Puls 49 war ich nah an der besten Verfassung. Doch je mehr ich opferte, desto stärker wurde auch das Schuldgefühl, die eigene Frau alleingelassen zu haben, besonders an den Wochenenden. Und: Es war mein erstes Radrennen seit Oktober 2019. Ich hatte keine Vorbereitung mit der Gruppe und kaum Vergleiche mit anderen, nur den Kampf gegen die Uhr.
 
Als Trainingsbeispiel die Woche vorm Rennen, vom 21. bis 27. Juni:
 
Mo.: 87 Kilometer mit 2 Bergzeitfahren auf den Großen Feldberg (insg. 1645 Höhenmeter)
Di.: 22 km Offroad-Radfahren
Mi.: Challenge „
Kettenhunde Feldbergkönig“: 5 Anstiege zum Feldberg (156 km mit 3473 Höhenmetern)
Do.: Ruhetag
Fr.: 62 km mit 1 Bergzeitfahren auf den Feldi (insg. 963 Höhenmeter)
Sa.: 82 km mit 2 Bergzeitfahren auf den Feldi (insg. 1471 Höhenmeter)
So.: 60 km, darunter Bergzeitfahren über 11,4 Kilometer mit 560 Höhenmetern zum Feldberg in 38:15 Min. (persönliche Bestzeit)
.:: DAS RENNEN ::.
Ohne meine Partnerin wäre mir der Start nur schwer möglich gewesen. Peanut opferte sich als Fahrerin, sodaß ich von Eisenbahn und anderen Schikanen befreit war. Nach zwei Stunden und knapp zweihundert Kilometern hatte sie mich um 17 Uhr durch eine Lawine aus tonnenschweren Lastern vor die Tore Kassels kutschiert. Wolkenbrüche und ein überschwemmter Ortseingang von Hertingshausen verhießen nichts Gutes. Doch wie durch ein Wunder lag die Rennstrecke umringt von dunklem Gewölk in einem Fleckchen Erde, in dem zwar der Dunst des Tages hing, das aber ansonsten trocken blieb. Als Nummernausgabe diente ein kleiner Klapptisch, den das Orgaehepaar am Parkplatz aufgebaut hatte. Hier bot sich eine nette Unterhaltung mit Chef Bernd Hesse. Vieles war anders als andernorts. So gab es keinen Umkleideraum, kein Essen und Trinken, keine Latrinen, keine Brausen, keine Abstandsregel, keinen Coronatest, keine Pestmasken - aber viel Natur. Zur Vermeidung menschlicher Fehler war eine selbstgebaute Zielkamera im Einsatz: ein simples, mit der App „Sprint Timer“ und langer Selfie-Stange bestücktes Mobiltelefon. „Wozu braucht man dann noch Kommissäre?“, fragt man sich da. Es war alles ungewohnt und doch sofort vertraut. Wage das Unmögliche, die Botschaft dieser einfachen und zugleich herzigen Sache. Dann trafen Peanuts alte Freunde Iris und Helmut mit frisch gemachter Konfitüre ein. Die drei hatten sich zwanzig Jahre nicht gesehen. Das Radrennen in ihrer alten Heimat war ein schöner Grund und treue Unterstützer waren sie allemal. Neben uns parkte ein Akteur aus dem Saalekreis, der meine Dresdner Kumpels Miersch, Rübling und Mosch bestens kannte. Und zwar stilecht im 120 000-Euro-Wohnmobil. Überhaupt wurde ich immer wieder auf mein Dresdner Trikot angesprochen. Der Parkplatz glich einer gemütlichen Familie. Ab 19 Uhr war der angrenzende Übungsplatz frei für die Radsportler. Ich fuhr mein altgedientes schwarzes Cube Litening C:62 - mit dem Heavy-Metal-Öl „Oil of Rohlöff“ auf der Kette...
Weil das erwartete Gewitter ausblieb, erfolgte der erste START planmäßig um 19 Uhr 15. Zuerst wurde der weibliche Bereich im Modus Kriterium von der Leine gelassen. Mit sechs Runden Abstand folgten die zwei Dutzend der Masters sowie der Nachwuchs, beide im Modus Rundstreckenrennen. Bei Unwetter wären alle in einem Rennen im Modus Rundstrecke gestartet worden. Ein Horrorszenario mit gewiß schlimmen Folgen... Punkt 19 Uhr 28 machten sich die Masters auf die Jagd. Sie kamen aus Frankfurt, Hannover, Köln, Mannheim, Nordhessen und Sonstwoher. Für ein Mädel aus Darmstadt wurde die lange Anreise unterdes zum Alptraum, da es den Start wegen einem Stau um Minuten verpaßte. Jener erfolgte „fliegend“ nach Einrollen im Innenraum und Einbiegen auf die Rennstrecke, ohne Peng und jedes Kommando. Ich war der Schar einfach gefolgt, hatte aber Probleme, stande pede ins Pedal zu kommen und meinen Tacho einzustellen. Zum Glück ging es nicht Vollgas zur Sache. Eingangs Runde drei hatte ich mich mit Vorbeck vom RC Adler Köln an die Spitze gesetzt und umgehend das Heil in der Flucht gesucht. Fünf Runden hingen wir als Sturmduo zwischen den Eliteladys und den übrigen Mastersfahrern im Nacken. Dann hatten wir uns in den Windschatten der Damen gekämpft. Der Kölner versuchte nun, mit mir zusammen das Rudel abzuhängen und als Puffer zwischen uns und den Masters zu legen - was meine Kräfte überstieg. Als wir in der Rennmitte von einem Dutzend Mastersfahren gestellt wurden, war mir klar: Es wird nicht reichen, die Sprinter auszuschalten. Das flache Gelände, die guten Bedingungen, die schnellen Hightech-Maschinen und das unermüdlich hohe Tempo erzeugten eine Patt-Situation im Feld, die in ein Finale mündete, in dem die Masse und der Wumms, sprich: die Schnellkraft, entschied (vielleicht auch unterstützende Mittelchen). Sprinten kann ich nicht, da half auch kein Speed-Metal-Öl im Getriebe. Mit dem Sieg hatte ich also nichts zu tun. Noch schlimmer: Nachdem ich das Feld dreißig Runden angeführt hatte, brach ich auf den letzten dreihundert Metern ein, und mußte mich mit Hilfe der Zielkamera um Reifenstärke mit Platz zwölf und gerade noch einem Zähler für die Rangliste zufriedengeben. Wie der Start kam auch das Ende aus heiterem Himmel. Keine Anzeige, keine Glocke für die letzte Runde. Nichts. So mußte ich in Hertingshausen eine ganz bittere Pille schlucken. Wenngleich im ZIEL Zweifel an der Rundenanzahl blieben: Mein Tacho zeigte 28,4 Kilometer an - vier Runden unter der Renndistanz von 33 Kilometern. Den Sieg sicherte sich der Gütersloher Fromberg, der jeden Tag mit dem Rad fünfzig Kilometer zur Arbeit fährt, beim Rennen gemütlich am Schwanz hing - und am Ende zuschlug.
Epilog
 
In Erinnerung bleibt ein wundervoller Abend im Grünen. Er währte lediglich zu kurz: Binnen einundeinerviertel Stunde waren sämtliche Wettkämpfe beendet und alle Ehrungen durch. In den letzten drei Runden der Frauen öffnete der Himmel seine Schleusen. Unsere Heimfahrt über die Autobahn glich einem nicht enden wollenden Trip durch eine von diffusem Gelichter durchbrochene Regenhölle. Das passende Klangbild stifete eine Musikkassette von 1984 mit ätherischer Elektroavantgarde von Jean-Michel Jarre.
 
 
Danke und Grüße

 
Bernd Hesse, Lordchen & Crew für diese idealistische Geschichte und die Zielfotoauswertung
Peanut, Iris & Helmut fürs Fahren, Zuschauen und Unterstützen
Die Leute, mit denen ich Kontakt hatte
 
 
Vitus, 2. Juli 2021; Bilder: Verkehrswacht Kassel, Peanut, F. Iske
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: stark bewölkt, 17ºC, schwacher Wind (9 km/h) aus Südwest, 83% Luftfeuchtigkeit
Typ: Rundstreckenrennen
Länge: 33 km
 
Gesamtmeldungen: 43
Im Ziel: 37
Masters 4: 18, Frauen: 4, Juniorinnen: 4, U15: 8, U13: 3
 
Masters 4
Am Start:
23
Im Ziel: 18
1. Jürgen Fromberg (RSV Gütersloh 1931)
2. Dieter Vorbeck (RC Adler Köln)
3. Marco Großegger (SC DHfK Leipzig)
4. Bernd Schmelz (KSV Baunatal)
5. Jörg Hein (RSG Hannover)
6. Michael Donner (RRG Osnabrück)
12. Vitus (Dresdner SC 1898)
 
Ergebnisse

Rad-net