WITH FULL FORCE X
 

Mainstage:
TYPE O NEGATIVE
, SEPULTURA, DESTRUCTION, CLAWFINGER, MESSIAH, SAINT VITUS, MADBALL, ENTOMBED, MANOS, DEBRIS INC.
Tentstage (Hardbowl):
POISON IDEA, ROGER MIRET & THE DISASTERS, THE BONES, ATREYU, DIE KASSIERER, TROOPERS, MOST PRECIOUS BLOOD, BORN FROM PAIN
Tentstage (Saturday Night Fever):
THE REAL MCKENZIES
, THINK ABOUT MUTATION, SAMAEL, J.B.O., THE DARKNESS
D-Löbnitz, Flugplatz Roitzschjora - 5. Juli 2003
Sonnabend, 5. Juli (2. Tag)
 
Runde zwei der Dauerbedröhnung. Vor Auf- oder, besser gesagt, Erregung (Saiiint Viiitus) konnte ich kaum schlafen. Nach einem Nickerchen von fünfeinhalb Stunden stieg ich um sieben verkatert und mit brennenden Augen aus dem Bett... schlich halb nackt im Korridor zur Brause... dachte, ich sei allein unterwegs... aber die Braut, der das Zelt gemaust wurde, geisterte auch knapp bekleidet umher... Peanut grummelte etwas von einem „Horror-Wochenende“. Halb zehn funkte ich unseren Doombruder Kalle an. Um Geld zu sparen, hatte der alte Mann in seinem Hundefänger auf dem Festgelände genächtigt. Derweil Kalle das erste Bier in Arbeit hatte, frühstückten Peanut und ich in der „Linde“. Und zwar ausschweifend mit Buffet und unter Metalheads. Leider vergaßen wir dabei die Zeit. Doch wir sollten früh am Pressestand sein, um den Fotoausweis abzuholen... So purzelten wir hinaus ins Freie. Es begann zu regnen, und mit gefühlten 13 Grad war es noch lausiger als gestern. Aus Zeitnot opferten wir 18 Euro für ein Taxi, trafen aber wie abgemacht halb zwölf bei den Kassenwarten ein! Und - heidewitzka -: immer noch kein Ausweis da! „Sie kommen noch, aber niemand weiß, wann!“ Damit ging´s erst mal ohne Genehmigung rein...
 
Ein Rudel Skinheads kam uns entgegen, und um zwölf standen wir auf dem von zertrampelten Büchsen und Alkleichen übersäten Trümmerfeld vor Kontrolle 2. Der Mobilempfang war weiterhin futsch, aber Textnachrichten kamen an. Nachdem Kalle unsere Koordinaten kannte, lehnten wir auch bald zu viert an der „Cocktail-Bar“. Kalle: 1,68 Meter klein, aber breit wie eine Tür, zementfester Händedruck. Fünf Monate nach „Doom Shall Rise“ durften wir uns wieder glücklich in die Arme nehmen. Das war zugleich der Auftakt für aufsehenerregende Situationen und bizarre Figuren, die wir zusammen erlebten. Da war der Punk, der mich rotzedicht bettelte, seinen gefallenen Kumpel ins Zelt zu schleifen (wahrscheinlich hätte der Typ mich selbst sofort vollgekotzt). Da war der Knilch mit Mönchsbart und Kutte, der frischgezapftes Bier in sein eigenes Trinkhorn umfüllte, unterm Leeren des Horns einen Kreis von fünfzig Metern drehte, zurück am Tresen das nächste orderte, und so fort... Da war der Scumfuck, der erst seinen Schwanz ins Haar des vor ihm Knienden steckte, darauf die Hose ganz runterließ - um rücklings zu Boden zu plumpsen und seinen Arsch kopulationbereit gen Himmel zu strecken... Um eins öffneten die Torwächter ihre Pforten, zwanzig Minuten später betraten wir die noch verwaiste, pfützenübersäte Plane vor der gewaltigen Hauptbühne. Dort lernte ich Gorilla Monsoons „Drumster“ Sandro kennen. Flüchtig nur, denn jetzt galt alles Interesse nur den einen... Sie waren da, DIE Saint Vitus aus Los Angeles! Ihr Vorbote tigerte schon auf der Bühne umher: Jesusfrisur, Stirnband, Flanellhemd, kurze Hose und viel Tinte unter der Haut: Dave „D.C.“ Chandler, der reaktivierte Kopf der Götter! Die Glückshormone rauschten nur so.....
DEBRIS INC.
1. Fuckin´ Mess
2. Full of Shit (F.O.S.)
3. The Old Man and His Bong
4. ?
5. Junkbox
6. The Nightmare
7. I Feel Like Shit Again
8. Shut Up
9. You´re the Reason I´m Medicated
10. Pain
11. The Ballad of Debris (?)
Schlag 13 Uhr 30 grüßte Rock-Hard-Zampano Kühnemund „Das Volk und die Doomer. Ihr seht jetzt DEBRIS INC.“ Den „Trümmerhaufen“ also. Rekrutiert aus alten amerikanischen Doomhelden, die heute „Happy Violent Drunken Stoner Doom Punk“ machen. Aus Dave Chandler (Saint Vitus) sowie Ron Holzner und Barry Stern (beide vormals Trouble). Passend zur Musik zogen schwarze Wolken heran. Aber nach sieben Jahren Abstinenz gab´s jetzt auch reifen Wein von Chandler und Konsorten. „Fuckin´ Mess“ war das erste, was die zweitausend unter der Hauptbühne zu hören bekamen. Da war sie, die zum Frösteln schöne Vitus-Gitarre. Wie zum Beweis prangten auf Chandlers schwarzem Apparillo vier silberne ´V`. Sehr punkrockig und doch tief in Vitus´ Venen belferte „Full of Shit“ daher. Dave grinste in die Menge, zeigte auf meinen Vitus-Pulli, und rief: „Nice shirts. What a time. I remember!“ Mit „The Old Man And His Bong“ folgte ein Doomrocker alter Machart, der anfangs von Holzner gesungen wurde. Ron ist ein Gestandener und kein Schlechter am Mikro. Doch die Aura eines Wino ist einzigartig. Debris sind verrottete Murder-Metaller. Nachdem sich Ron auf die Speaker gebockt hatte, um dort ein Bier zu kippen, sprang nun Stern hinterm Schlagzeug hervor - um sich vorn am Bühnenrand mit raspelkurzen Haaren, halb nackt in kleinen, engen Satinhöschen zu zeigen... Die Rocker „Junkbox“ und „Nightmare“ folgten, und einer rief meinen Namen: Thomas Sch. (offensichtlich durch den Wind und trotzdem sofort erkannt; die Komplizen von Weed In The Thead hielten ihre Hände schützend über ihn). Unter dem Punkrocker „Feel Like Shit Again“ begann es sehr heftig zu tröpfeln. Eine Glatze erbat Schutz unterm Schirm meines Mädels. Dave kreischte den Dreißigsekünder „Shut up“ herunter, sagte mit „I think, some people like medication“ das punkige „You´re the Reason I´m Medicated“ an, und krächzte „We got two more, than I go to my leader. The first one is called 'Pain'.“ „Pain“ entpuppte sich als tonnenschwerer Mammut mit den bedrohlich hingeknurrten Zeilen „I will bring you pain!“ und „I love to hate you!“ Wieder und wieder, acht Minuten lang! Nach dem Kommentar „This is a quite nice, simple ballad, a ballad about rain“ setzte es final noch einen treibenden Heavyrocker, und nach einer Dreiviertelstunde wünschte Dave: „Enjoy the rest of me, too. I´ll see you in three hours!“ Oh, Dave, wenn du wüßtest: Den Staub sollten wir dir in drei Stunden vom Fuß lecken! Der blonde Recke El Hulle (2,03 Meter, 120 Kilo) und seine Señorita vom Tankard-Bus trafen aus Hessen ein. Hulle hatte Debris vom letzten Wacken als „Proberaumcombo“ in Erinnerung und attestierte ihnen einen „großen Schritt nach vorn“.
li.: Peanut & Kalle vor der Hauptbühne
re.: Peanut, Kalle, Tanja und El Hulle
Kühnemund trat auf die Bretter und gab mit Ruhrpottschnauze den Ausfall vom DISHARMONIC ORCHESTRA bekannt. Damit wiederholte sich die Geschichte aus dem Vorjahr. Schade! Ich kannte die experimentellen Grind-Deather aus den Achtzigern aus Frankfurts legendärem „Negativ“, und hätte den bizarren Dreikant aus Klagenfurt nach all der Zeit gerne wiedergesehen... Dafür lernte ich in aller Flüchtigkeit meinen Heilbronner Brieffreund „Bleed the Freak“ und seine Schnecke aus Dresden kennen. Schade Freak, ich war im emotionalen Chaos und konnte mich nicht zerteilen!
 
MANOS waren die Nächsten. Irgendwelche kultigen Fun-Deather aus Magdeburg-Anhaltinischen Landen, die heute mal im großen Schaufenster stehen durften. Sie kamen mit Drahteseln, ´nem drei Meter hohen Baß und ließen Grenzdebiles wie „Biene Maya“, „Zicke Zacke, Zicke Zacke, Holy Chicken, Holy Chicken, Hühnerkacke, Hühnerkacke“ und „Hip Hip“ von der Leine - nur um im nächsten Augenblick hart und bös zu deathen und zu grinden. Keine Ahnung, wer so was braucht.
 
Wir unternahmen den dritten Versuch zum Erhalt des Fotopasses. Also noch mal durch tausende und abertausende leicht bis schwer Alkoholisierte kämpfen, um den Kilometer zum Presseschalter zurückzulegen. Gestalten unter Gasmasken und Schutzbrillen spukten umher, zerstörungslustige Wandalen stiefelten mit zehn Meter Anlauf in Toilettenhäuschen - und siehe da: Die Pässe warteten!
 
15.30 Uhr hatte die schwedische Death-´n´-Roll-Elite ENTOMBED ihren Auftritt. Schon mal gesehen? Freilich! Fünfmal mindestens! Und auch ein sechstes Mal wär´ erregend gewesen - auch ohne Nicke Andersson! Doch heute war ich im Tunnel zu Saint Vitus! Wir bewegten uns den Zeltplatz hinab zu Kalles Hundefänger (kleiner Lieferwagen), um dort Rast zu machen. Unter einem im Winde flatternden Adler grölten Fans von Eintracht Frankfurt „Nie mehr Zweite Liga, nie mehr, nie mehr!“ Wir kamen an der „Halfpipe“ vorbei, in der halsbrecherische Rollbrett- und BMX-Fahrer beim „Skateforce“ um nationale Meisterehren kämpften. Auf der Hauptbühne grunzte L.G. Petrov den Dauerbrenner „Out of Hand“ mit den Worten „Jesus Christ, Lord of Flies. In disguise. FUCK!“ sowie die Einleitung des Überwerks 'Clandestine', „Living Dead“, ins Mikro. Am Hundefänger angelangt, zeigte Kalle uns eine Blondine, die am Morgen nackt, wie Gott sie schuf, umherspaziert war und dessen Frage, ob es ihr nicht kalt sei, mit einem Lächeln beantwortet hatte. Von der Hauptrampe peitschten die Entombed-Mörser von 'Left Hand Path' und 'Wolverine Blues' herüber. Wir stärkten uns mit Kalles Butterbrot, Fleischbällchen und Paulaner. Ein Bulli mit einer grölenden Horde auf dem Dach rollte vorüber. Und ein Wind hob an. Ich fror erbärmlich. Zu allem Überdruß gab unsere Zweitknipse ihren Geist auf. Wenigstens lieferten Entombed ordentliche Arbeit ab.
 
Halb fünf bewegten wir uns zurück zum Festgelände. Am Einlaß lag ein jung Kaputter. ´Ne andere Gestalt - vermutlich sein Kumpel - pinkelte ihm mitten ins Gesicht. Der Angepisste war hin und weg und ließ sich nicht lumpen: Als der Pinkelnde fertig war, erhob er sich, nahm seinerseits eine halbvolle Flasche Schnaps und steckte sie einem am Boden liegenden Punk tief in die Kehle. Jener machte einen Sturztrunk und wurde vom Trupp weggetragen... In der Hardbowl pöbelten derweil die Ruhrpottpunker DIE KASSIERER kurz vor der Übernahme der Weltmacht letzte Debilitäten wie „Ich bin Sozialarbeiter und arbeitslos“ ins Asselpack. Eigentlich sind dies ja alles keine Konzerte sondern Feten zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Und viele kommen auch nicht für die Bands, sondern um sich selber abzufeiern. Die Leute sind viel interessanter!
 
Um 17 Uhr hatten wir wieder den Acker des Inner Circle unter den Schuhen. Wir schlenderten am „Metal Markt“ vorbei. Verschlagene Handausstrecker verlangten zwei Euro Eintrittsgebühr. Von der Hauptbühne bellten die NYC-Ghetto-Kampfhunde MADBALL Hardcore-Tiraden. Noch dreißig Minuten... VITUS... Die Spannung stieg ins Unendliche... Noch zwanzig Minuten... und mit dem aufziehenden Doom ließen die Götter nun auch den Himmel weinen. Ich suchte Schutz an einem Verhau. Zwei Pimpfe befrugen mich nach der nächsten Gruppe. Die Antwort „Saint Vitus!“ wurde mit einem großen Fragezeichen im Gesicht und einem „Is´n das? Death Metal?“ erwidert...
SAINT VITUS... Mitveranstalter Bogo war es gelungen, die Doomgötter für zwei Tage ins Leben zu rufen. Im Sommer diesen Jahres schlossen sie Frieden - erstmals seit 1991 in der klassischen Besetzung mit Dave Chandler, Wino, Mark Adams und Armando Acosta. Auslöser für die Auferstehung war ein Auftritt von Chandler in Wacken 2002, wo er mit Debris Inc. „Born Too Late“ gespielt und gefühlt hatte, daß einige Leute Vitus noch immer lieben. Debris-Bassist Ron Holzner führte sie wieder zusammen... Am 1. Juli gaben Saint Vitus im „Double Door“ Chicago eine Klubschau, die „The Heaviest Show Ever!!!“; und nun war die Stunde gekommen, nach der wir uns ein Jahrzehnt gesehnt hatten: Die mächtigen Vitus waren zur einmaligen „United Ein Time“-Sonderschau gekommen. Die zig Untoten und makabren Szenen davor konnten uns nicht aufhalten. Um 17.20 Uhr waren wir bis auf hundert Meter am Hauptgeschehen dran. Der Himmel schloß die Schleusen. Halb sechs standen Vitus auf dem Stahlrohrgiganten. Ich stürmte nach vorn, Saint Vitus voraus, eine Division Metalheads im Rücken.
SAINT VITUS
1. Clear Windowpane
2. Dying Inside
3. White Magic/Black Magic
4. Living Backwards
5. I Bleed Black
6. White Stallions
7. Born too Late
Um 17.33 Uhr warnte Dave Chandler - mit gespreizten Armen und Händen das ´V` formend -: „Hey man! Beware of what you wish for!“ Darauf rollte stoischer Trommelwirbel über die Grasebene, darüber ein Riff wie ein feuerspeiender Drache: „Clear Windowpane“... Wino erschien. Wie Dave mit angegrauten, aber arschlangen Haaren. Der Wino erhob seine Stimme und sang durchdringend bis auf die Knochen: „I see colours everywhere, I have things living in my hair...„ Alles in mir spielte verrückt. Da oben standen Saint Vitus! Allein beim Niedertippen dieser Zeilen steigen mir Tränen in die Augen. Wino machte seine erste und einzige Ansage - vier Worte: „Hallo Duitschland! Wie geht´s?“ Dies beschrieb wohl ungefähr den Grad seiner Lebensfreude. Schocker Nummer zwei tönte von oben herab: „Dying Inside“. Wino litt sich noch mal durch seine eigene Hölle: „I can´t control my addiction. I´ve tried time and time again. I´m losing all my friends and lovers. Alcohol knows it´s gonna win.“ Gott labte sich an Gänsewein und alle litten mit. Aus Respekt gegenüber Scott Reagers widmete Dave das Nächste den „people in the old Vitus-shirts“, und Wino entstaubte es mit animalisch-wildem Blick: „White Magic/Black Magic“, mit seinen weißmagisch-schwarzmagischen Linien „I believe in miracles, I don´t believe in sin. I believe in wizardry, I don´t believe in trends.“ Die erste Walze vom Überwerk 'V' rollte über Roitzschjora: „Living Backwards“. Wieder zelebrierte Wino jede Silbe mit höchster Eindringlichkeit. „Dreams were made for mortals, none were left for me. So I´m living backwards, the past is all I see.“ Die Reporter mußten den Graben verlassen. Ich kämpfte mich durch die vorderen Reihen, sah Leute ekstatisch tanzen, viele wirkten paralysiert, manche haben sogar geweint. Ein Trauma schwarz wie Teer strich über uns: „I Bleed Black“. Seine Zeilen: „Open my veins, I do it every day. I live in a dark world, where death is just an L.A. game.“ Vor zehn Jahren lief schwarzes Blut durch Winos Adern. Er war dem Tod näher als dem Leben. Heute durften wir ihn anbeten. Die adrenalinbeladenen Rösser „White Stallions“ galoppierten. Sogar der stille Mark doomte nun wild übers Podium, der lederbehelmte Acosta wuchtete wilde Hufschläge auf die Snares und Dave glitt unter fakirgleichen Verbiegungen mit den Zähnen über seine Geliebte. Der raserische Ritt endete als dreizehnminütige Fuzzlawine. Dave grummelte kurz „No drums and bass!“. Doch der Groll war schnell verflogen. Denn Vitus zelebrierten „Born too Late“. Der Rest ist nicht in Worte zu fassen. Wino zelebrierte mit pfeilerrammender Intensität, was viele denken, schlichte Zeilen, jede eine Anhimmelung der Unangepassten: „Every time I´m on the street, people laugh and point at me. They talk about my length of hair, and the out of datet clothes I wear. They say I look like the living dead, they say I can´t have much in my head“, und schloß mit ungeheurer Emotion: „I was born too late, and I´ll never be like you!“ Und dann schrien es Dave und Wino zusammen wie ein Flammenwerfer: „I´ll never be like you!!!“ Diese Momente werden nie in Vergessenheit geraten! Zeiten ändern sich, mit ihnen die Menschen. Vitus nie! Dave kreuzte mit Mark die Gitarren und bat - einen Kuß in die Menge werfend - „Save me a beer!“
 
Das geschah am 5. Juli 2003, um 18.17 Uhr tief in Sachsen. Ich sah ins Gesicht von Kalle. Seine Augen glichen Feuerbällen. Der alte Mann hatte die ganze Zeit Rotz und Wasser geheult. Peanut hatte unter einem Regenschirm leise mitgesungen. Ich stapfte vor der leeren Kanzel auf und ab. Es war vorbei, Saint Vitus waren Geschichte, wir hatten ins selbe Licht gesehen, es wäre ein schöner Tag zum Sterben gewesen...
 
Den Gottheiten folgten die Schweizer Todesmetaller MESSIAH. Auch jene waren ein Fossil aus den Achtzigern. Doch härter konnte der Schnitt nicht sein: von glühener Lava zu eisigen Riffgewittern... Zufällig stieß ich erneut auf Hellrock Seb. Der wußte aus Eingeweihtenkreisen von einer Autogrammstunde mit Saint Vitus: 19 Uhr am Stand von „Rock Hard“. Jetzt hieß es, die Zeit bis dahin mit Geduld zu bezwingen. Zu Schweizer Todesbleigebolze floß Reudnitzer Bier. Ich plapperte mit Thom von Dreaming. Der klärte mich über die Herkunft der weissen Farbkleckse auf seinen Schuhen auf, um sich darauf nach Nirwana zu verabschieden. (Und ich hab dem armen Hund noch ein Helles gestiftet. Aber wir haben´s aufrecht bewältigt.)
li.: Peanut & Wino (Saint Vitus), re.: Mark, Dave, Armando & Wino (Saint Vitus)
Um sieben flehten dreißig Doomjunkies um ein Zeichen von den Saint Vitus. Einer stellte sich mir als „Bundeskanzler“ vor: Exile-On-Mainstream-Chef Andreas Kohl. Die Aufpasser gewährten mir Zugang zur Audienz. Ich durfte den Unberührbaren in die Augen blicken und dem stillen Wino und dem exzentrischen Dave (mit zitternden Knien, rasendem Herz und verbotener Geste) die Hand reichen. Um 19.35 Uhr hielt ich Peanut mit Wino im Bild fest, Armando Acosta grinste glücklich und Mark Adams erteilte mir mit „God bless you!“ den spirituellen Segen. Ja, und Wino signierte meinen Arm. Daraus sollte ein Tattoo werden... und VITUS WIRD FÜR IMMER LEBEN!
 
Fortan trieb ich einen Meter über der Grasnarbe. 19.50 Uhr stiegen Schwedens „Deaf, Dumb, Blind“-Crossover-Millionäre CLAWFINGER in ihre Schau ein...
 
Kalle, Peanut und ich begaben uns zum Hundefänger, um das Erlebte zu rekapitulieren. Gerstensaft rann durch unsere Kehlen. Wir kaubelten Digitaltonträger - und im Hintergrund rappelten die Thrash-Metal-Pioniere DESTRUCTION. Noch aus dreihundert Metern Entfernung drang Schmiers erblondeter Schopf, seine spitzen Schreie, die messerscharfen Stahlgewitter und die rasselnden Trommeln in Perfektion zu uns rüber. Die Patronengurtträger aus dem Ländle und ihre Langeisen um den 'Mad Butcher' und die 'Cracked Brains' waren allerdings nie mein Ding. Heute waren Destruction nur eine unter tausend grellen Anektoden.
 
Ein Grünschnabel mit Pappschachtel in der Hand prahlte Kalle an: „Kuck ma, wat ick hier haabe.“ Kalle schaute in den Karton, blickte in Kotze, und antwortete daraufhin ironisch und trocken: „Haste jut jemacht!“ Soldaten rückten im Bulli an und besprühten sich mit Deosprays und Rasierschaum. Auch auf dem Campingplatz nur Gaskranke - also zurück zu Haupt- und Zeltbühne. Unterwegs lag einer mit ramponiertem Schädel im Dreck. Sanitäter verfrachteten ihn in einen Sanka.
 
22 Uhr nahmen die Thrasher SEPULTURA ihre Arbeit auf. Mit dem Rausschmiß von Max Cavalera war auch der Stamm Sepultura zerbrochen. Das war 1997. Kurz darauf erlebten wir die Brasilianer als Stoßtrupp für Slayer im hessischen Offenbach. Mit Max´ Nachfolger, dem schwarzen Brüllberg Derrick Greene, mutierten Sepultura zu einer Hardcore-Combo. Greene schrie wie vom Affen gebissen, in Nebel verschwindend: „Alles gut? Alles sehr gut? This one is called 'Evidence of God'.“ Cavaleras Koryphäen „Refuse/Resist“, „Chaos A.D.“ und „Territory“ wurden blutleer und lustlos rausgehaun. Schade um den begnadeten Gitarristen Andreas Kisser - aber ohne ihren Kopf sind Sepultura mausetot. Diese Legende ist für mich Geschichte.
 
Um 22.50 Uhr bewegten wir uns erstmalig zur Zeltbühne, wo es bei der „Saturday Night Fever“-Fete vergleichsweise ruhig herging. Wir tranken was und sinnierten über das Gerücht, daß das gezapfte Festivalbier gepanscht sein soll. Blau wurden wir von der Brühe nicht. THE DARKNESSspielten. Keine Ahnung, wer das sein sollte. Die neuen Superstars aus Britannien? Oder waren´s J.B.O. inkognito? Zumindest fabrizierten die Unbekannten einen ganz passablen Achtzigerjahre-Heavy bis Power Metal, mit quietschbunten Gitarren in Zackenform, Kastratengekeif, und Typen mit Prinz-Eisenherz-Mähne, expliziten Stretchhosen und Schweißbändern um Stirn und Hand. Die grelle Quinte legte sich ordentlich ins Zeug - und mittlerweile war es grausig kalt. Hinter einem Windfang bekämpften wir mit Thai-Curry aus dem Wok den Hunger und gingen bibbernd weiter zur Hauptbühne...
 
Auf selbige trat um 23.35 Uhr der Dampfplauderer von Rock Hard - um lauthals „Jetzt ist Schluß für heute, morgen geht´s weiter. Viel Spaß mit Type O-O-O-O-O-O-O-O Negative!“ zu vermelden... Die zweite der drei Hauptgruppen. Das Avantgarde-Doomcore-Kommando aus Brooklyn, USA. Die explizite Misanthropie in Gestalt von Kenny Hickey, Josh Silver, Johnny Kelly und Peter Steele an der Front. Die bösen TYPE O NEGATIVE! Allein für sich der nackte Wahnsinn. So aber schlugen unsere Herzen nur für die Einen. Gewaltig wie ein Urwaldriese, ein Koloß an Größe und Muskeln, so stand Lord Petrus Steele da. Voller Haß hatte er sein einzigartig tiefes Werwolfsorgan erhoben, um uns zu packen und in seine Abgründe zu zerren. „I Know You´re Fucking Someone Else“ hatte er geschrien, die Worte zur viertelstündigen, alles killenden Altigkeit „Unsuccessfully Coping With The Natural Beauty Of Infidelity“. Superhart, superfies, supergemein! Allein dieser Auftakt ließ es mir eiskalt den Rücken runterlaufen. Hätte ich Roitzschjora doch bloß nicht vor vier Stunden gen Sternenbild „Saint Vitus“ verlassen... So blickte ich mit Peanut und Kalle aus der Ferne auf das Szenario: Die Hauptbühne lag im grünen Licht. Wie in einem endzeitlichen Halbdunkel drängte sich davor die zehntausendköpfige Menge. Die Trauerverarbeitung „Everyone I Love is Dead“ und die schwarzromantische „Christian Woman“ mit dem zynischen „She´d like to know god, ooh love god, feel her god, inside of her, deep inside of her“ folgten. Steele, Frauen und der Hominid ansich waren und bleiben ein äußerst gespaltenes Verhältnis. Haß und Liebe, Leben und Tod, der Untermensch und Jesus Hitler... Es war sinnlos: Vitus trübten meine Sinne. Zehn Minuten nach Mitternacht - als Steele „Jesus Christ looks like me!“ in die kalte Nacht schrie - trennten sich Kalles Wege mit unseren......
TYPE O NEGATIVE
Intro
1. Unsuccessfully Coping With the Natural Beauty of Infidelity (I Know You're Fucking Someone Else)
2. Wolf Moon
3. Everyone I Love Is Dead
4. Christian Woman
5. Love You to Death
6. World Coming Down
7. Kill All the White People
8. Cornucopia [Black Sabbath]
9. Prelude to Agony
******
10. I Don't Wanna Be Me
11. Black No. 1 (Little Miss Scare-All)
Unser Abmarsch vom Fliegerhorst wurde vom Onkäls-Schlachtruf „Frankreich ´84“ untermalt: „Deutschland, Deutschland ist die Macht“ - mordslaut und weit weg vom Rotfaschofrankfurt... Nach Feilschen um den Preis nahmen wir zähneknirschend eine Droschke für 21 Piepen. Im nächtlichen Delitzsch erwartete uns Verdunklung. Selbst der Einheimischentipp „Die 2“ war dicht. Wir drehten eine letzte Runde durch die Altstadt, und fanden auf dem Markt mit der „After Workshop“ ein letztes offenes Lokal. Einen Schluck später verließen wir es, und trafen im Biergarten auf den kälte- und alkoholresistenten El Hulle mit seiner Tanja. Doch wir wußten auch, daß der blonde Riese selbst nach einem Dutzend Jägermeister und zwanzig Bieren immer seinen Nietzsche unterm Arm hat. Darauf hatten wir keine Lust mehr. In der „Linde“ köpfte ich ein letztes Pils und fiel ins Reich der Doomträume.
 
 
Heiliger Vitus, 11. Juli 2003
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