DRITTE WAHL, FLIEHENDE STÜRME, CREMASTER
D-Nürnberg, Z-Bau (Kunstverein) - 11. Dezember 2008
Es war angedroht und wahrgemacht: Wenige Stunden nach ihrem Auftritt in Frankfurt war ich den Fliehenden Stürmen nach Nürnberg hinterher gereist. Diesmal zusammen mit meinem Mädel Peanut. Schauplatz in Nürnberg war ein Klub, den es vielleicht schon bald nicht mehr gibt. Plänen des Betreibers Z-Bau GmbH sowie der Stadt Nürnberg zufolge, soll der „Kunstverein“ im Sommer 2009 aus dem Z-Bau raus und durch städtisch unterstützte, kommerziellere Einrichtungen ersetzt werden. Angesichts des heute anwesenden „Publikums“ kein schlechter Plan. Denn heute rückten die übelsten Zeitgenossen, die man sich überhaupt auch nur vorstellen kann, an. Hunde, Nazis und Fremdgetränke durften nicht rein. Dafür aber verpilzte Nietenpunks, verlauste Filzlockenträger, autonome Linksaktivisten und ritalinbedürftige Gleichstellungskämpferinnen. Heute herrschten Geschubse, Geschiebe und aufgekratzt-schwieriges Geschwalle nonstop. Ein Rauchverbot galt für den „Kunstverein“ sowieso nie. Die Latrine das schlimmste Dreckloch, daß sich denken läßt, voller stinkender Fäkalien und Kotze. Mit mehr als 300 Gestalten war der 150 Personen fassende Konzertraum heillos übervölkert. Für 13 Euro hagelte es Terror für Geist und Körper einen ganzen Abend lang. 20 Uhr 40 Uhr ging´s zur Sache...
CREMASTER aus Nürnberg machten den Auftakt. Cremaster auf den Brettern - und Damenbinden, Bananenschalen und eine weggeworfene Knuspermüslitüte davor. Der Bassist im Schwulen-Look, ein als Müllsack getarnter und Müllsäcke ins Volk werfender Schlagzeuger, dazu erschreckend schwacher, zusammengepfuschter Lagerfeuerpunk auf Deutsch mit politischem Hintergrund: Das ist alles, was von Cremaster hängen blieb. Cremaster waren ein Vortag treu dem Motto „Stumpf ist Trumpf“ - mit der idiotischen Forderung „Im Übrigen bin ich dafür, daß Deutschland vernichtet wird!“ am Ende. Die reinste Zeitvergeudung! Musikalischer Sondermüll!
Endlich (ab 21 Uhr 35) folgte dann für mich die Fortsetzung mit den Düsterpunkern FLIEHENDE STÜRME. Eine neue Lektion in Sachen Haß und Liebe, Endzeit und Zerstörung. Den zweiten Teil innerhalb von 24 Stunden. „Ratten spielen in den Straßen, sind keines Herren Knecht / Ich bewege mich lautlos durch die kalte Nacht...“: Andreas, Stefan und Andi starteten mit „Kind“. Und rasch war klar, daß sich die drei dem Nürnberger Publikum angleichen würden. In Frankfurt noch depri und lebensmüde, gaben sich die Fliehenden heute stürmisch und kämpferisch, und ließen mit oft weit aufgerissenen Augen ihrer aggressiven Ader freien Lauf. Gestern noch verfehlt, durfte ich das Überlied „Alles Falsch“ - das wie kaum ein anderes mein eigenes Schicksal auf den Punkt bringt - jetzt in Gänze erleben. Und zwar am einzig weniger bedrängten Ort: seitlich der Bühne neben Münch und im Rücken von Löhr und Kniehl. Peanut hatte weniger Glück und wurde beim Beschützen unserer Habseligkeiten von einem dieser Rambopunker angemacht. Sie hätte ihm am liebsten eine gepfeffert. Nicht nur dem! Ein Sonderfall auch für die Stürme. Denen heute nicht nur auf Grund des verzeckten Sounds etwas von ihrer Faszination flöten ging. Nürnberg war anders. Nürnberg war Punk. Asi-Punk! Obwohl sie mit 'Lunaire spielt mit dem Licht' eine starke neue Platte besitzen, hielten sich die Stuttgarter weitgehend an ihre traditionellen Werke. „Das Chaos brütet“, „Tag der Armut“, „Killerblau“, „Springen“, „An den Ufern“... Nicht nur die strohblonde Dreadlock-Trägerin zu Füßen Andreas Löhrs konnte jede Textzeile mitsingen... Die Stürme spielten neunzig Minuten. Diese neunzig waren die Reise wert.
 
Im Anschluß durfte ich ein paar Worte mit dem ironischen Herrn Löhr wechseln; ich lernte Andi Münch kennen (der zwei Tage später - nach dem Konzert im „Kassandra“ Jena - die Stürme verlassen sollte); und hing eine Weile mit Stefan Kniehl zusammen. Wir redeten über Marathonlauf und tranken Bier aus einer Pulle. Ich sage nur: Eine Seele von Mensch! Aber sowas von!!
Kniehls geschätzte Ostpunker DRITTE WAHL starteten 23 Uhr 25 in einem unaushaltbaren Dunst aus Nikotin, Alkohol und Schweiß. Nach einer unterschwelligen Schelte an die Adresse der „Glubberer“ (der 1. FCN hatte den FC Hansa anfangs der Woche mit 4:0 immer näher zum Abgrund geführt), droschen Gunnar, Stefan und Krel wieder altbekannte Lieder zum Mitgrölen in den Mob. Lieder voller Herz und Verstand. Gegen die „Gesellschaft“ und die Systeme dieser Welt. Mal räudig rockig, mal rasselnd schnell, manchmal auch mit dem Reggae flirtend. Und dabei stets direkt nach vorn. „Rausch“, „Hol mich hier raus“ und das dem Bassisten Busch´n in den Himmel geschickte „Auf der Flucht“ sind mir am tiefsten in Erinnerung geblieben. Im Übrigen fand ich den erneut zur Schau getragenen Dandy-Look absolut vogelscheuche. Aber besser ein aalglattes Sakko von der Stange als eine verzeckte Nietenlederjacke. Mit Blick aufs nahende Doom-Ereignis „Low Frequency Assault“ haben wir um 0 Uhr 15 den Rückzug angetreten. Ob die Mecklenburger „Kein Ton“ gespielt haben - das wissen nur die Wogen der Ostsee.
 
 

Heiliger Vitus, 19. Dezember 2008
.:: ABSPIELLISTEN ::.
 
CREMASTER
1. Südstadtblues
2. Armer Michael
3. Der gute Kapitalist
4. Lichter/Gespenster
5. Ungenießbar
6. Fehlerteilchen
7. Mond über Höfen
8. Nachts sind alle Katzen rot
9. Perfekt
 
FLIEHENDE STÜRME
(ohne Gewähr)
1. Kind
2. Tobende Welt
3. Systemstörung
4. Alles Falsch
5. Zwischen Liebe
6. Lunaire
7. Das Chaos brütet
8. Umarmung
9. Tag der Armut
10. Mein langsamer Tod
11. Trümmergemüt
12. Blauer Mond
13. Killerblau
14. Springen
15. An den Ufern
16. SchlafWandel
17. Zerstörung
18. Kleines Herz
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Trinkerherz/ Die aus den Schatten springen/ 25 Stunden/ Höhlen sind dunkel/ Gestern/ Zeiten/ Sturm/ ...Mehr als mich/ Spieler/ Bakterien
 
DRITTE WAHL
unbekannt