18. FRANKFURTER HALBMARATHON
8. März 2020
Sie tanzten nur einen Sommer
 
Nach einer Comeback-Saison im Radsport hatte ich innerlich schon wieder Abschied genommen. Der Radsport war nicht mehr der, den ich von früher kannte. Männer in Wolltrikots, die auf zehn Kilo schweren Metallrädern ruhig durch einsame, holprige Chausseen fuhren, waren von carbonisierten Markenfetischisten verdrängt worden, Räder pfeilschnell, die Ausrüstung unerschwinglich. Unter den Sportlern herrschte Ellbogenmentalität, Wärme und Kameradschaft spürte ich nie. Während beim Training überall der Tod durch ein Auto lauerte. Mein Mädel hatte mich zwar bedingungslos unterstützt, konnte ihre Angst aber kaum aushalten. Die letzten existierenden Lizenzrennen waren kurze, schnelle Ringelpiezkriterien auf engstem Raum. Klassische, lange Straßenrennen ließen sich nur mit dem Geld der „Jedermänner“ stemmen. Über dem Gegner schwebte Zweifel: Wer fährt clean in der traditionell dopingaffinen Sportart? Andererseits zerstörten rigide Kommissäre die Arbeit der Sportler, indem sie sie willkürlich aus dem Rennen nahmen oder nicht werteten. Diese Entwicklung wollte ich nicht mitgehen. Genaugenommen war der Radsport in Deutschland tot. Drei Stürze im Training wirkten wie Vorsehungen. Nach einer Zwangspause nach Krampfaderoperation und einem verregneten Winter war ich raus.
 
In der Zeit verschwand auch meine Mutter mir nichts, dir nichts aus diesem Leben............
Danach hatte ich ein Vierteljahr überhaupt kein klares Ziel mehr............
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Der Halbmarathon meines Ex-Vereins Spiridon Frankfurt war mein erstes Rennen nach dem Abschied meiner Mutter drei Monate zuvor. Laufen ist unkompliziert und birgt nicht die Gefahr, als Krüppel oder Kreuz in einer Böschung zu enden. Ich glaube, diese Entscheidung würde meine Mutter im Himmel glücklich machen. Bestimmt hat sie mir heute zugesehen. Wobei das Rennen bis zuletzt wackelte: Anfang März ging ein Virus um - CORONA. Viele Großereignisse konnten nicht stattfinden. Betroffen waren unter anderem die Radrennen Strade Bianche, Tirreno-Adriatico, Mailand-Sanremo und der Rom-Marathon. Auch Frankfurt verzeichnete im März seine ersten drei Covid-19-Fälle. Trotzdem wurde Hessens größter und schnellster Halbmarathon durchgezogen. Allerdings gaben die Veranstalter und das Gesundheitsamt Verhaltenstipps: Wer sich schon vorm Start krank fühlte, sollte überhaupt nicht erst erscheinen. Helfer gaben die Verpflegung mit Handschuhen aus; benutzte Becher wurden entsorgt; das Zielbier durften sich die Läufer selbst einschenken. Letztlich trug das Risiko aber jeder selbst. Das Teilnehmerlimit von 6500 Läufern wurde auf 8500 erweitert - Marathondimensionen. Vier Wochen vorm Start war es ausverkauft. Am Renntag akzeptierte die Organisation weitere 500 Nachmeldungen zum Preis von 35 Euro. Kurzentschlossen und pünktlich zur Schalteröffnung um acht Uhr konnte ich noch eine Nummer ergattern.
.:: DIE STRECKE ::.
Die anno 2010 von der Nord- auf die Südseite des Mains verlegte Strecke verlief in diesem Jahr erstmals gegen den Uhrzeigersinn. Durch den Wegfall der Engstellen unmittelbar nach dem Start und am Golfplatz sollte sie noch schneller werden und zweitausend Läufer mehr fassen. Die Route führte vom Waldstadion vorbei an den Sportverbänden und pber eine Brücke nach Süden zur Isenburger Schneise. Hier war in Richtung Neu-Isenburg eine Wendemarke eingerichtet. Danach führte der Weg über die Mörfelder Landstraße durch Sachsenhausen bis ans südliche Mainufer. Vom historischen Eisernen Steg ging es nun auf einer Länge von vier Kilometern mainabwärts bis zur Niederräder Brücke. Im Anschluß wurden die Läufer durch die Bürostadt Niederrad, entlang des Golfplatzes und unter Bahntrassen hindurch zurück ins Sportfeld geführt. Zum Schluß liefen sie in den Innenraum der riesigen Fußballarena ein und passierten das Ziel vor der Haupttribüne. Der flache und exakt vermessene Kurs bot beste Bedingungen für Bestzeiten.
.:: DAS RENNEN ::.
Vier Tage nach dem Fußballpokal-Viertelfinalsieg von Eintracht Frankfurt über Werder Bremen bevölkerte heute das Läuferheer das Waldstadion, das jetzt leider Commerzbank-Arena heißt. Sechseinhalbtausend tummelten sich im Bauch der Haupttribüne. Spiridon Frankfurt hatte als Ausrichter im Erdgeschoß einen Infostand aufgezogen (an dem ich nach Jahren der Entfremdung niemand mehr kannte), in der exquisiten Club-Lounge im Oberrang wurden Kaffee, Kuchen und Brezeln serviert. Ein Hauch von „Es war einmal“ lag in diesem leicht aufgeregten, aber menschlichen Treiben. Draußen war es grau und kühl, sozusagen ideales Rennwetter. Der START verzögerte sich um fünf Minuten. Um 10 Uhr 5 liefen hundert Eliteläufer los. Fünf Minuten später folgte der erste Block des Hauptrennens. Um 10 Uhr 11 startete die zweite Welle mit einem Zeitziel zwischen 1:30 und 1:40 Stunden. Hier hatte ich mich in Stellung gebracht. Vorn konnte ich schon lange nicht mehr mithalten. Den letzten Halbmarathon war ich 2013 gelaufen, ich hatte sieben Lenze mehr auf dem Buckel, Rennfahrerbeine und zehn Kilo mehr als früher. Letztmals „schnell“ gelaufen war ich vor sieben Jahren. Dazwischen lag ein nach drei Kilometern abgebrochener Marathon in Frankfurt 2015. Dieses Trauma war heute nach ebenso vielen Kilometern ausradiert. Ich schwamm in der Masse mit - gesund und frei von Erfolgsdruck. Druck schien vielmehr mein damaliger Trainer Kurt Stenzel zu verspüren, der mir nach der Wendemarke nach vier Kilometern auf der Gegengerade der Isenburger Schneise als Pacer für eine Zeit unter 1:24 Stunden entgegeneilte. Und zwar mit nach unten gerichtetem, schmerzverzerrtem Gesicht. Etliche hundert Meter weiter voraus lagen zwei Äthiopier, ein halbes Dutzend aus der weißen Welt und ein paar versprengte Einzelkämpfer. Auf der leicht abfallenden, kerzengeraden Asphaltpiste nach Frankfurt hinein ging der Gaul mit mir durch. Im Sog eines Unbekannten war es sofort wieder wie in alten Zeiten. Gefühlt lief ich die Kilometer fünf bis neun in 4:10 Minuten pro Kilometer. Aber die Zeiten haben sich geändert. Nach einem Schnapper in der Unterführung Stresemannallee machten die hinteren Oberschenkel zu und das Herz geriet außer Takt. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Jedenfalls krochen Angstgefühle in meinen Kopf. Und der Körper war diese Anstrengung auch wirklich nicht mehr gewöhnt. Von Sachsenhausen durch die Zuschauermengen am Schweizer Platz, und mit Sicht auf die Wolkenkratzer über den eisigkalten Schaumainkai bis hin nach Niederrad, folgten vier verhaltene Kilometer. Nach sechzehn Kilometern blinzelte zwischen den Glasfassaden der Bürostadt die Sonne hervor. Es folgte der naturnahe Abschnitt im Stadtwald und vorbei am Golfplatz. Mit der Unterführung und der kleinen Rampe zum Sportfeld waren die letzten Meter eingeläutet. Der Lauf durch den Tunnel am Tor 1 hinab ins mit fünfzigtausend schwarzen Sitzen bestückte Fußballstadion war pure Gänsehaut und jeden Pfennig wert. Die letzten Meter auf grünem Teppich wurden gegen die Laufrichtung bestritten, das ZIEL-Tor stand vor der dichtbesetzten Haupttribüne. Mein erster Lauf nach sieben Jahren endete im vorderen Viertel mit einer Zeit unter hundert Minuten. Das war das Ziel.
Finale
 
Ruhm und Geld sackten die Fliegengewichte aus Äthiopien und Osteuropa ein. Der 2012 nach Deutschland gekommene Äthiopier Mitku Seboka lief mit neuem Streckenrekord von 1:05:14 Std. durchs Zielband. Seboka war Deutscher Halbmarathonmeister 2016. Zweiter wurde sein Landsmann Abdi Uya Hundessa, an dessen Identität Zweifel bestanden. Bei den Frauen siegte die Ungarin Anna Bognár, letztjährige Siegerin des Budapester Halbmarathons. Zweite wurde die zweimalige Olympiateilnehmerin Petra Wassiluk. Auf Platz drei landete Äthiopiens Hindiyaa Mohamed. Fünfhundert Läufer blieben unter 1:30 Stunden. Damit hat Frankfurt einen der schnellsten Halbmarathons von Deutschland. Aus meiner einstigen, zwanzigköpfigen Trainingsgruppe kamen drei ins Ziel, der beste kurz vor mir nach 1:37 Stunden. Als ich mit meinem Mädel zur Mittagsstunde aufbrach, liefen noch ganze Heerscharen durch den Tunnel ins Stadion hinein - die Letzten nach drei Stunden.
 
Ende gut, alles gut?
 
Weit gefehlt! Der Frankfurter Halbmarathon war eins der letzten Ereignisse für lange Zeit. Am Tag danach wurden alle Veranstaltungen und Ansammlungen jeder Art wegen der Corona-Pandemie verboten, darunter sämtliche Frühjahrsmarathons. Am fünften Tag stand die Welt still.
 
Danke
 
Den Lauf widme ich drei ganz wichtigen Menschen in meinem Leben:
Meinem Bruder Ben (für die Inspiration zum Laufen und Unterstützung in dieser schweren Zeit)
Meiner Frau Peanut (das beste Geschöpf auf Erden; Danke für einen weiteren geopferten Tag!)
Meiner Mutter Annelies (Du warst immer da - und nun fehlst Du so!)
 
 
Vitus, 11. März 2020, Bilder: Vitus, Peanut, Sport Online
 
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: anfangs stark bewölkt, später etwas Sonne, 8ºC, frischer Wind aus West
Zuschauer: ca. 10
 000 (eigene Schätzung)
 
Gesamtteilnehmer
(Männer und Frauen)
Meldungen: 9000 (Rekord)
Am Start: 6432 (Rekord)
Im Ziel: 6366 (M: 4469 / W: 1897)
 
Männer
1. Mitku Seboka (LAC Quelle Fürth) 1:05:14 (Streckenrekord)
2. Abdi Uya Hundessa (TSV Schott Mainz) 1:06:36
3. Julian Häßner (SC Impuls Erfurt) 1:07:58
4. Jochen Uhrig (TSG Weinheim) 1:08:04
5. Dejen Atanaw-Ayele (ASC Darmstadt) 1:08:07
6. Marcel Bräutigam (GutsMuths Rennsteiglauf) 1:08:09
...
1048. Vitus (Dresdner SC) 1:38:33 (AK: 51.)
 
Frauen
1. Anna Bognár (Honved Budapest, Ungarn) 1:19:33
2. Petra Wassiluk (Team Main-Lauf-Cup) 1:19:47
3. Hindiyaa Mohamed (TV Alzey) 1:20:10
4. Annalena Hofele (Sparda-Team Rechberghausen) 1:20:16
5. Anna-Katharina Plinke (LG Telis Finanz Regensburg) 1:21:09
6. Friederike Schoppe (LSG Goldener Grund Selters) 1:21:33
 
Ergebnisse

Mika Timing