In der folgenden Geschichte sind Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit beabsichtigt.
Die letzten Glühwürmchen
 
Dresden, Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die Wunden des Krieges klafften noch, Straßenzüge lagen von Feindfliegern in Ruinen gebombt, ausgebrannte Fensterhöhlen waren zu sehen, die Fassaden rochen noch rußgeschwärzt, schwelten noch geradezu. Tanzsäle ließen sich an einer Hand abzählen. Irgendwo, irgendwann ist es passiert: Die zwanzigjährige Schöne vom Lande wurde vom Kerl mit der größten Klappe geschwängert, und der neue Mensch als Kriegsenkel in der dritten Rauhnacht ins Leben geschickt. Freunde würden ihn später „Vitus“ rufen. Das könnte der Anfang einer glücklichen Familie sein. Doch den gemeinsamen Sohn anerkennen? Für den Spross einer Unternehmerfamilie unvorstellbar! Die Mutter mußte ihren Sohn also allein großziehen. Voller Liebe kämpfte sie dafür, daß es ihm gutgeht. Das friedliche Hügelland vor den Toren der Elbestadt war die Heimat. Ein Haus aus schwarzem Holz mit weißen Fenstern und einem Sockel aus rotem Stein am Rand des Dorfs, fast im Poisenwald. Umgeben von Busch und goldenem Feld, wuchtigen Bäumen und Lichtungen an steilem Hang und dem rauschendem Poisenbach im engen Wiesengrund. Ein Ort, wo der Winter beißenden Wind, meterhohe Schneewehen und lange Dunkelheit brachte, und Väterchen Frost Eisblumen auf die Fenster zauberte. Wo die Sommer voller Schmetterlinge und summender Bienen waren, Leuchtkäfer in der Luft tanzten, und Holzstöße unter der unendlich weiten Sternenkuppel knisterten. Der Himmel wölbte sich meistens wolkenlos klar und wunderschön blau wie eine See über dieser Landschaft. Die Natur hatte ihr alles gegeben, was es an Frieden auf dieser Erde geben konnte. Ein einziges Schimmern und Funkeln war das gewesen, am schönsten Fleck der Welt. Die Stube wurde noch mit Kohle befeuert. Ein Radio und ein Fernseher mit zwei Sendern und drehbarer Antenne: die einzigen elektrischen Errungenschaften. Ein Garten mit grünen Gräsern, wunderschönen Blumenfeldern und langen Gemüsebeeten war da. Ein Bassin hatte da gestanden, Apfelbäume, Kirschen, Pflaumen und duftender Flieder. Die Sträucher hingen voller frischer Beeren. Oma machte daraus die beste Holundersuppe der Welt. Federvieh war da gewesen, ein Hund und Kaninchen. Am Zaun stand eine Laube mit doppeltem Boden, Stroh zum Träumen und einem staubigen Fenster als Ausblick. Der rostige Drahtesel dort drin stammte wohl noch von der ersten Tour de France. Und dann die Erkundungsgänge durch das alte Haus aus den Vierzigern. Jede Menge Krempel war da zu entdecken. Unten im Keller parkte ein „Adler Trumpf“ aus der Zeit, mit knarrenden Ledersitzen, geheimnisvollen Tachometern und „Kontag“-Benzin im Tank. Der Dachboden war eine Schatztruhe voller Bücher, verstaubter Abzeichen und Utensilien aus vergangenen Zeiten. Doch manches, auf das er stieß, blieb geheim - darunter die „Gewittertruhe“. Erschaffen hatte das alles sein sudetendeutscher Opa, der in den letzten Kriegswehen als Vertriebener auf der Suche nach einer neuen Heimat in Sachsen hängenblieb. Auch ein Mädel war da nebenan: die Tochter des Bürgermeisters als erste verstohlene Romanze. Von Ameisen wurden sie in den Hintern gepiekt. Und dann der magische Wald... Sonntags machte der Zigarre schmauchende Großvater mit ihm Morgenausflüge tief hinein zum Pilzesammeln oder zur Holzbeschaffung. Ansonsten hatte Vitus den „Busch“ ganz für sich. Er lud zu rasanten Schußfahrten im Schlitten bis hinunter ins Tal. Oder zur Besteigung des Hochsitzes an der riesigen Eiche. Der Sprung von der obersten Sprosse war für ihn eine unwiderstehliche Mutprobe. Noch tollkühner und gefährlicher war nur die Unterquerung der Eutschützer Mühle im tintenschwarzen, engen Bachtunnel - immer mit Schiß, vom strengen Mühlenwirt erwischt zu werden. Frei und unbekümmert waren die Sechzigerjahre. Vitus war glücklich, er lebte in seinem goldenen Zeitalter. Alles, was geblieben ist, ist ein Blumenhügel von den liebevollen Großeltern, die zwei Kriege überstanden und auch in die ewige Heimat vorausgingen. Sie waren die letzten Zeugen dessen, was einst war und nun für immer verloren ist.
 
Heimatliebe und Sozialismus
 
„Seid bereit!“ - „Immer bereit!“: In Zeltlagern, im Knistern von Fackeln und bei Fahnenappellen, schwor Pionier Vitus den Treueeid auf sein Land. Er lernte das Einmaleins von Miteinander und Zusammennhalt, was Kameradschaft, Gerechtigkeit und Gleichheit unter den Menschen sind. Keine Stände, keine Klassen, keine irdischen Vorgesetzten. Er liebte die Heimat, glaubte fest an die rote Fahne und den Sozialismus. Sein Weg darin war vorgezeichnet und sicher. Später in der FDJ lautete der Kampfruf „Freundschaft!“ Das Blauhemd mit dem Sonnenzeichen am Ärmel war gebügelt rein, der Kopf kurzgeschoren, Werte und Regeln, Achtung und Ordnung das Normalste auf Erden. Aber er war auch etwas aus der Art geschlagen, hatte eine melancholische Ader, war introvertiert und liebte die Körperlichkeit über alles. Wilde, mitunter blutige Keilereien, brachten Vitus den Respekt der anderen. Auch knospten plötzlich unbekannte Gefühle für Mädel... Aber er malte auch gern, baute Drachen und Flieger. In der Lehre überlagerte der Kalte Krieg die Freude am Spiel und Sport mit einem militärischen Akzent. So waren die Jahre als Stift auch oft die reinsten Wehrsportübungen. Die Vormilitärische Ausbildung sollte ihn wie in einer Ahnung für den späteren Lebenskampf schulen und stärken.
 
Dresden
 
Mit den Clogs, Polyesterhemden und Schlaghosen der Siebziger endeten die magischen Abenteuer als Pimpf in ländlicher Idylle. Aufbruch lag in der Luft. Doch die Siebziger sollten auch eine Geschichte der Abschiede, der Enttäuschungen und Armut werden, eine Zeit zwischen hoffnungsvollem Neuanfang und harscher Wirklichkeit... Seine Familie ließ das Dorf des Friedens hinter sich und zog ins noch immer vom Krieg gezeichnete Dresden. Hier verbrachte er seine Jugend. Wo es Bomben geregnet hatte, reihten sich bereits Häuserblöcke mit den Errungenschaften der Moderne. Doch nach wie vor strahlten Ruinen und Trümmerlandschaften die schaurige Atmosphäre der vom Krieg zerstörten Stadt aus. Ein in der Kristallnacht ausgebranntes Glaubensgebäude blieb als unheimliches Mahnmal genau so stehen wie die durch Britenbomber zerstörte Frauenkirche. Statt auf Mond und Sterne blickte er in der Dresdner Südvorstadt auf flackernde Gaslampen und Fenster mit vielen Augen. Das Leben war nun entbehrungsreicher, oft auch geprägt von Hunger, Kälte und Krankheit. Seine ebenso talentierte wie lebensdurstige Mutter, eine der wohl schönsten Frauen ihrer Zeit, verfiel Männern und Berauschung. Sein Vater, der echte, wollte nichts von ihm wissen. Er kannte ihn nur geisterhaft von den rosa Karten mit der Alimente. Erstmals trafen sie sich nach achtzehn Jahren. Da war es schon zu spät, das Eis noch zu brechen. Nur auf sich gestellt suchte der vernachlässigte Junge in der großen Stadt ein Stück Halt. Wer im Florenz an der Elbe heranwächst, wird entweder Künstler, Musiker oder Sportler. Derweil sich rings um ihn Gleichaltrige für den Sozialismus und rote Ideale begeisterten, und nach guten Noten und erweiterter Schule strebten, andere wiederum mit subversiven Bluesern, Trampern und Kuttenträgern sympathisierten, beschloß Vitus, durch Erfolge im Sport aufzusteigen. Alle Kräfte wurden gebündelt und unter dem Einfluß der in seiner Heimat so populären und glorifizierten Leibesübungen in die richtigen Bahnen des Leistungssports gesteckt. Letztlich stellte die Mentalität der DDR die körperliche Leistung der geistigen ebenbürtig - sogar über sie! Verpasste Chancen, verdrängte Gefühle, nicht gelebte Leben inklusive.
 
Durchs Stahlbad: Kampfsport
 
Schon als kleiner Junge hatte Vitus sich im Dorfverein als Fußballer versucht, schnell aber seine Begeisterung für den Kampf Mann gegen Mann - damals Junge gegen Junge - entdeckt. Mit zehn Jahren und schmächtigen sechzig Pfund kam er zur Judoabteilung von Lok Dresden. Rasch waren ihm Seoi-nage, Tomoe-nage und Falltechnik in Fleisch und Blut übergangen und der 4. Kyu erlangt. Voller Rauflust wie ein junges wildes Tier, reihte sich Sieg an Sieg - bis versiertere Gegner folgten und ihm wehtaten... Zu einem guten Kampfsportler gehören eben nicht nur rohe Kraft und Mut, sondern auch Taktik und Technik. Damit stand Vitus auf Kriegsfuß. Immer öfter ging er als Verlierer von der Tatami. Eine Verletzung brachte den Knockout. Die Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Denn der Drill der knochenharten Übungsleiter in muffiger Luft, dunklen Gängen und auf verwanzten Matten hatte ihm sowieso die Lust an der Japanischen Kampfkunst geraubt. Sein Bruder machte es besser und wurde Dan-Träger und Judo-Lehrer. Ohne Sport bot das Leben dem kleinen Adoleszenten allerdings kaum noch Lichtblicke...
Durchs Stahlbad: Radsport (Bescheidenheit, Fleiß, Ehrgeiz)
 
1976 lief Vitus zu den Radrennfahrern über. Die Teufelskerle der Landstraße hatten es ihm mächtig angetan, die Verschmelzung von Mensch und Maschine. In keiner anderen Sportart wird dieser Grad von Zähigkeit und Härte, von Energie und Organkraft entwickelt. Die Mutter kaufte ihm das erste Rad, ein Sportrad von „Diamant“, ohne Schaltung, mit Drahtreifen und Schutzblechen. Tief fasziniert wälzte er im Keller einer Bücherei ein vergilbtes Lehrbuch, und saugte wie ein Schwamm alles auf, was er über Rennräder und Training erfahren konnte - ein Nerd, hätte man in unserer Zeit gesagt. Die Fanfare und die Rundfunkübertragungen der Friedensfahrt jagten ihm alljährlich im Mai Schauer um Schauer unter die Haut. Vitus wollte den steinigen Weg nach oben gehen. Hartnick und Drogan, die großen Vorbilder. Doch der Traum stand unter keinem guten Stern: Die Aufnahme in die Elitesportschule KJS blieb ihm verwehrt. Zu alt mit vierzehn? War das Umfeld ideologisch unsicher? Der Grund blieb im Dunkeln. Zudem machte ihm der in Scherben gefallene Bund der Eltern zu schaffen. Er erlebte, was geschieht, wenn aus Liebe Haß und aus Partnern Feinde werden. Das Essen im tristkalten Zuhause mußte er sich selber machen und beschränkte sich oft auf Pudding oder Zuckerbrote. Aber er hatte Glück in der Auswahl der Sportgruppe. Im Arbeitersportverein Aufbau Dresden-Mitte - als „Excelsior“ früher zu den führenden Bahnrennern Deutschlands zählend - traf er einige der besten Männer, die ihm je begegneten. Voller Leidenschaft und Hingabe und vielleicht auch mit etwas Talent fuhr er mehrmals die Woche zum Training auf der Dresdner Radrennbahn. Die war lang, vierhundert Meter, und eine von wenigen in Sachsen. Der Damm der Eisenbahn und eine Laubenkolonie ihre Umgebung. Davor standen alte Kastanien und eine Baracke mit dem Geruch aus Reifenkleber und Kettenöl. Das Knattern des klapprigen Kompressors, der Luft in die Rennräder hämmerte, die Freunde, die mit ihm durch dick und dünn gingen: Wie oft er das schmerzlich vermißt! - Blitzende Speichen, ein Rennlenker und Schalthebel aus Alu, ein schmaler Sattel, Schlauchreifen von Kowalit, Radhosen aus schwarzer Wolle mit einem Polster aus Ziegenleder, das Trikot noch von der Oma abgenäht, Trainingsfahrten mit der Gruppe, stolzes Jagen auf einem Spezialrad ohne Bremsen, Schaltung und Freilauf durch die überhöhten Kurven im Zementoval. Aber auch Stürze, Sepso-Tinktur und Wunden bis aufs rohe Fleisch: Das alles brachten die ersten Jugendrennen. Im Winter folgten wieder Abhärtung, Eisenstemmen und mörderharte Treppen- und Waldläufe im Elbhang und durch die tief verschneite Dresdner Heide. Die Sportler sahen aus wie Rübezahl, hatten mit Eiskristallen bedeckte Gesichter und naße Schuhe. Die Kameradschaft war ohnegleichen. Nach gründlicher Durchbildung in Schnee und Kälte stellten sich erste Erfolge ein. Vordere Plätze in der Großen Jugend schürten Erwartungen. Nun ordnete Vitus dem Sport alles unter. Jede freie Minute saß er auf dem Rad und trainierte wie verrückt. Vom Leipziger Tiefland zu den Hügeln der Oberlausitz, von den Gipfeln des Sudetenlands in die weite Ebene der Niederlausitz kannte er jeden Stein. Auf den Fernverkehrsstraßen Sechs, Hundertsiebzig und Hunderzweiundsiebzig war er daheim. Bald hing sein Zimmer voller Schärpen, Schleifen und Medaillen. Vitus schlief mit seinem Rad. Er wurde für Trainingslager vom Dienst freigestellt. Treten bis der Schmerz in die Beine schießt, bei Wind und Wetter, bei Staub, bei Regen, bei Wind und Sturm: die Vorgabe.
Mit dem ersten Bartflaum die Beförderung zu den Amateuren. Getrieben vom „He-he-heee!“ der Meute, die erste Siegerschleife im zweiten Rennen. Erkämpft mit einer Straßenmaschine, die er aus schwer zu erstehenden Teilen zusammengeschraubt hatte: Tretlager, Schaltgruppe, Pedale und Naben waren ikonisches Campagnolo, die Bremsen Swiss Made, Rahmen und Sattel aus der Tschechei eingeschmuggelt. Immer in Angst, von den Grenzern - also der Stasi - erwischt zu werden. Damals war die Tschechei noch wirklich große weite Welt. Das Geld war im Lenkerrohr versteckt. Dafür mußte er harte Arbeitseinsätze auf dem Feld, dem Bau, bei der Reichsbahn, im Uran und im Unternehmen des Übervaters erledigen. Der lieh ihm manchmal sogar seinen russischen „Wolga“. Im Hoffen auf den Durchbruch schloß sich Vitus einer Sportgemeinschaft mit dem Nimbus mehrmaliger DDR-Meister in ihren Reihen an: der mythisch verklärten Querfeldein-Hochburg Dynamo Dresden-Nord. Stolz trug er nun die weiße D-Rune auf weinrotem Grund auf der Brust. Mit all seiner Kraft stürzte er sich in die neue Aufgabe. Doch je mehr er opferte, umso stärker wurde das miese Gefühl, seine alten Gefährten im Stich gelassen zu haben. In der Kaderschmiede herrschte zwar Zucht, Ordnung und Kampf - nur an Kameradschaft haperte es. Wärme empfand er dort nie. Der alte Geist war gestorben und die Siege der Großen wollten nicht auf den Youngster abfärben. Der Dynamo-Klub brachte ihn nicht weiter. Das Interesse der unterstützenden Bereitschaftspolizei erlosch, die Abteilung Radsport fiel aus der Förderung. Als Quartier mußte ein leerstehendes Haus in der Adlergasse herhalten. Wo vorm Krieg Dresdner Bürger wohnten, waren nun Kraftraum, Werkstatt und Versammlungsraum untergebracht, das stockfinstere Treppenhaus diente als Trainingsort. In der Adlergasse trafen sich die Sportler auch immer vorm Rennen. Nachdem sie anfangs noch unter kratzigen Wolldecken von Pritschenlastern der Bepo zum Wettkampf gekarrt wurden, scheiterten später die wichtigen Rennen zum Aufstieg zu den Fahrern der Leistungsklasse schon an der Anreise. Manchmal hatte Vitus auch schon über fünfzig Kilometer im Rennsattel in den Beinen, als er am Start stand. Dazu stieß ein Freund beim Straßentraining frontal mit einem Auto zusammen und wurde tödlich verletzt. Ein anderer würde sich nach einem Aufprall auf ein Auto nie wieder bewegen können. Vitus kam immer von ganz unten. Eine gewisse Dunkelheit verdeckte den Aufstieg. Er war ihm nah, doch die unsichtbare Kraft der Oberen war stärker. Keins der acht vom Staat erlauchten und verhätschelten radsportlichen Leistungszentren wollte ihn haben. Alle Bewerbungen und Empfehlungen blieben unbeantwortet. Also versuchte er es auf eigene Faust. Der Plan, über eine Parteimitgliedschaft und als Offiziersschüler der Luftwaffe bei den Sportsoldaten des ASK Vorwärts Frankfurt unterzukommen, platzte, weil Informationen nicht weitergegeben wurden. Tausend Jahre später erfuhr er, daß der maßgebliche Funktionär - ein Bekannter seines Vaters - nichts von ihm wußte. „Hätte ich den Hinweis gehabt, hätte ich ihn geholt“, sagte der Armee-General in einer Ironie des Schicksals. Vitus´ Entlassung aus der „Fahne“ erfolgte in Unehren.
 
Wenn Glocken läuten, Dämme bersten, Bomben explodieren... (Lust)
 
Mehr als zu Frauen hatte es ihn bislang aufs Rad gezogen. Nun war er schon achtzehn und spitz wie eine Reißzwecke. Die Zeit war also reif für die andere Seite. Endlich die Verlockungen des Lebens kennenlernen, in hautengen Shirts und Bluejeans posieren, sich einen Bunten machen. Mädel und Musik hatte er im Schädel, wollte pimpern und verbotene Getränke austesten. Die unterdrückten Triebe waren genau so katastrophal, wie der erste Vollrausch und der kalte Sex mit einer Diskomieze. Eine Schwarze Witwe verdrehte ihm den Kopf als erste richtig. Doch sie brachte zwei Kinder mit und tauchte eines Tages wie ein Stasispitzel ohne jedes Zeichenunter. Im verhexten siebenten Jahr hatte Vitus den Kanal voll. Nach einer langen Latte von Erfolgen, darunter etlichen Sächsischen Landesmeisterschaften, zuletzt allerdings herben Enttäuschungen und ohne Entwicklungschance, begrub er den großen Traum und vermachte sein Rennrad unter Tränen dem mehrmaligen Querfeldeinmeister Mosch, mit dem er mal ein Paarzeitfahren gewann. Im Herbst ´82 kam der Ausstieg aus elf Jahren Leistungssport in der DDR. Mit gerade mal zwanzig. Einer der drei größten Fehler seines Lebens.
Fall und Flucht
 
Fortan war der junge Mann dagegen. Doch er verspürte keinen Zorn gegen das sozialistische Vaterland. Nein. Einzig aus Enttäuschung über die Sportführung entschloß er sich in einem Akt der Rebellion zur Rückgabe seines Parteibuchs und des „Bonbons“, dem Parteiabzeichen. Mit der Abkehr vom System war die Zukunft verbaut. Aber ohne Radsport gab es sowieso keine. Doch auch die Führung wollte ihn nun schleunigst wieder loswerden. Von einer gediegenen Stelle im Außendienst wurde er knallhart zu schwerer Arbeit in den finstersten Hallen der Stadt verwiesen. Dort trotzte er etwa der nächtlichen Arbeit in einer Flaschenfabrik einen ganz eigenen Zauber ab. Und so erkundete er nach und nach die dunkle Seite seiner Seele. Bis er den Bezug zu seiner von Drill und Verzicht geprägten Realität verlor und statt zu trainieren in einen Strudel aus Alkohol und Schlägereien geriet. Verlorene Linie, verlorene Liebe, speiüble Erfahrungen über der Kloschüssel, Porzellan wurde zerschlagen, Erinnerungen in Kisten verpackt - Vitus war raus aus der Spur. Die Flucht in den Westen der einzige Ausweg. Raus aus dem Tal der Ahnungslosen, ab in die ungewisse Freiheit. Für immer. Blauäugig. Und ohne die Folgen vorauszuahnen. 1983 stellte er einen Ausreiseantrag. Damit waren die Brücken zum alten Leben endgültig abgebrochen, seine Bude bald verkauft, die letzten Platten verschleudert. Ohne ein Wort des Abschieds verschwand er auch aus dem Leben seiner Blutsverwandten. Die meisten sollte er nie wiedersehen. Beim Versuch rüberzumachen, schwebte er in großer Gefahr: Vitus geriet in die Fänge der Staatssicherheit. Ein schnelles Einsatzkommando setzte ihn fest. Er wurde eingebuchtet, mußte ein quälendes, endloses Martyrium überstehen, unter Lebensgefahr im Stahlwerk schuften, und Dinge erleben, die kaum vorstellbar sind. Bis plötzlich alles ganz schnell ging und der Westen ihn rausholte.
 
Vom Zoni zum Bundi: Hinter feindlichen Linien (Vergeltung)
 
Ein Tag im Sommer 1984: Im ersten Morgenlicht der Weg durch die Mauer............ ins Leere. In eine Odyssee durch ein Blendwerk. Westdeutschland in der Kohlära. Die Arbeitslosigkeit stieg unaufhörlich. Neonazis, Skins, Punker und Metalheads machten die Straßen unsicher. Erste Station war das Auffanglager in Gießen. Gleich bei der ersten Unternehmung - dem Besuch einer Bar - gab er sein Geld für eine Animierdame aus. Gießen bedeutete nur einen Kurzaufenthalt. Zum Abschied steckte ihm jemand ein „Butterfly“ zu - damit er sich gegen die Türken wehren konnte, von denen jeder eins hatte. Das also war die Freiheit. Die erste neue Wohnanschrift ergab sich in Nürnberg. Vitus war Anfang zwanzig, voller Energie, aber ohne bestimmtes Ziel. Er träumte von Chicago, von Los Angeles und Straßenkreuzern, und startete einen vagen Versuch, die Radkarriere wieder aufzunehmen. Doch das Bewerbungsgespräch in einem Nürnberger Café ging schief: Das Angebot, in einem Vorstadtklub noch mal neu anzufangen, lehnte er ab. Stattdessen verführten ihn Lohndirnen, trinkwütige Osteuropäer und türkische Haschischdealer. Im Sommer ´84 kam Vitus beim „Monsters Of Rock“ auf dem Zeppelinfeld zum erstenmal mit bösem alten Heavy Metal in Berührung: Mötley Crüe in natura... Nach Randalen in Nürnberg setzte er sich in letzter Sekunde ins nächste Flugzeug nach Westberlin, wo er auf Hilfe durch einen alten Bekannten hoffte. Beim Abschied weinte ein Basketballspieler aus Rumänien um ihn - einer der ganz wenigen, die das je taten... Die Frontstadt also als nächste Destination. Wieder eine Expedition ins Ungewisse. Die Ankunft auf Tegel: bei Schnee und in finsterster Dunkelheit mit einer Sporttasche und den letzten Groschen. Der Bekannter in Lankwitz konnte ihn nicht aufnehmen. Doch er bekam unerwartet Hilfe; Das Pärchen aus dem Flieger brachte ihn übergangsweise in einer Wohngemeinschaft in Schmargendorf unter - und reichte ihn dann weiter an eine Kifferkommune nah der Festung Spandau. Jene überließ ihm einen Schlafplatz in einem Hochbett auf Marihuana Island. Die Dusche war im nahen Stadtbad. Eine Affäre mit Sweet Leave Mary Jane? Unvermeidlich! Denn statt mit Schrippen begann der Tag in dieser Wohngemeinschaft mit frisch geerntetem Gras und einer gigantischen Bong. Er ging weiter mit trivialem Gerede und endete bei selbstgemachtem Punk in der Stube. Zum Schutz vor Nachbarn war die Trommel mit einem Kissen ausgestopft. Der Grat, auf Suchtdrogen hängenzubleiben wie Christiane F., war genauso schmal wie der zu einem Stricher am Bahnhof Zoo. Am Ende war Vitus nicht der, der er gern sein wollte, ein Fremder in einer fremden Stadt. Heimweh plagte ihn. Er litt wie ein hilfloses, einsames Tier und verteufelte all die Hirngespinste, die ihn aus Sachsen fortgerissen hatten. Als er eines Tages vom Brausen zurückkam, hatten die Kiffer seine Tasche in den Schnee vorm Haus gestellt. Berlin war nur eine weitere Durchgangsstation. Der Aufbruch kam abermals keine Minute zu früh.
Glitzerrausch, Neonhuren, Babel (Verblendung)
 
Vitus war zweiundzwanzig, völlig abgebrannt und wußte nicht, wohin. Aber dann erinnerte er sich an eine silberne Ansichtskarte mit glitzernden Wolkenkratzern und dem Main davor. „Frankfurt ist ein schmutziges Pflaster!“, hatte eine Dame ihn gewarnt. Doch er beschloß, den Verlockungen zu folgen. Nach einer langen, düster-beklemmenden Zugreise durch die ostdeutsche Winterlandschaft und den innerdeutschen Zaun traf Vitus im Januar 1985 mit nichts in Mainattan Frankfurt, Stadt der Liebe und Neonreklamen, ein. Zuflucht fand er zuerst in einem Achterzimmer im Hadejott am Rande des Kneipenviertels Alt-Sachsenhausen. Und dann im unheiligen Allerheiligenviertel in direkter Nachbarschaft zur kleinen Schwester des Frankfurter Bahnhofsviertels, einer Welt aus Prostitution und Unterwelt. Später siedelten sich auch der Anziehsachenladen Pitbull und Tätowierer Kevin von den Onkelz dort an. In ikonischen Straßenzügen wie der Kaiserstraße lockten ihn Freudenspenderinnen mit kurzen Röcken und auf hohen Stöckeln in plüschig-morbide Bordelle - derweil im Dreck Junkies den Herointod starben. Zur Begrüßung im Westen durfte Vitus auch eine Weile im Badischen Land verschnaufen - umhegt und verführt von Kurfeen. Nach Blutwechsel und körperlicher Aufrüstung die Rückkehr nach Frankfurt zu hellem Bier und Southern Comfort. Ein Schrauberjob im Fahrradlädchen vor Ort brachte neben dem alten Geruch aus Eisen, Gummi und Reifenkleber auch die ersten selbstverdienten Westmark ein. Etwas Kredit? Ein schnelles Auto? Eine Frau - schwarz, weiß oder gelb? Was darf es sein?... Er legte sein Sächsisch ab, kam im hedonistischen Westend unter und probte hier das freie Kommunenleben. Voll von unstillbarem Lebensdurst machte er sechs Jahre lang den Tag zur Nacht, trieb wie ein abgetauchtes U-Boot durchs Neon-Frankfurt der Achtziger, hing als Beau in stylish-coolen Bars, Bistros und Szenekneipen herum, raste aus reinem Übermut mit einigen Umdrehungen im tiefergelegten Sechzehnventiler gen Nirgendwo, suchte Geborgenheit in Sexabenteuern, und sollte zum Callboy ausgebildet werden. Es war eine wilde Zeit, das stand mal fest. Doch für dieses Leben fehlte ihm Kaltschnäuzigkeit. Lügen konnte er nicht! Und allmählich beschlich ihn ein seltsames Gefühl: Etwas passt hier nicht so recht ins Bild! Was in Nürnberg und Berlin in seiner Wahrnehmung noch unterschwellig schlummerte, wandelte sich in der Revolverstadt zum täglichen Terror: zu viele Farben, schleimige Gestalten, geschändete Sprache aus befremdlichen Schleiern und gefährlichen Bärten. Das war fremd und nur mit allergrößter Ignoranz auszuhalten. Er erkannte das kriecherische Wesen des Volkes im Westen, und wurde konfrontiert mit Hetze und Lügen. Der Propagandschirm verbog die Wahrheit, verbreitete niederträchtige Lügen über den Arbeiter- und Bauernstaat, in dem keiner von denen je war. Er prallte auf Welten. Auf der einen Seite die Fratze des Mammons, eine kalte kapitalistische Gesellschaft, die sich über Geld, Macht und Status identifiziert. Auf der anderen Seite Schafe, Nattern und kuschender Plebs in lebenslanger Knechtschaft. Viel hatte sich also nicht geändert: Während im Osten für den Sieg des Sozialismus marschiert wurde, hieß es Westen Strammgestanden für den Kapitalismus! Dazwischen tummelten sich kriminelle Horden und bunter Abschaum. Kann so etwas den Charakter verfärben?
 
Onkäls, Kneipenterroristen, Germanium Metallicum (Stolz)
 
Mit den vormaligen Krishnajüngern, Patchouliesoterikern und sonstigen Phantasten konnte Vitus überhaupt nichts anfangen. Aber Musik übte immer eine unleugbar starke Wirkung aus. Die erste Berührung hatte er Ende der Sechziger, als er als Kind auf einem kleinen Plattenspieler in aller Heimlichkeit eine Platte der Kinks hörte. Seitdem wohnte neben dem Engel der Teufel in seiner Seele. Gruppen wie die Puhdys, Black Sabbath, Deep Purple, Pink Floyd und Emerson, Lake and Palmer waren die Renner seiner frühen Jugend. (Für eine Schallplatte blechte man im Osten übrigens auf dem Schwarzmarkt ein Viertel seines Monatsverdiensts.) Im Westen Mitte der Achtziger brachte ihn ein rätselhaftes Mädel dazu, seine Jeans hauteng abnähen zu lassen, zu zerschlitzen, sich Bandshirts überzustreifen, die Haare etwas länger wachsen zu lassen und Schwermetall zu hören. Er fing Feuer für Judas Priest, Iron Maiden Maiden, Van Halen... Und dann ließ der Gott des Donners Speed-, Thrash- und Death Metal auf die Menschheit los - von Musikern seiner Generation. ´88 erlebte er Slayer und Overkill. Und damit war alles anders. Die besten Metalbands aller Zeiten - Slayer, Overkill, Metallica und Megadeth - gaben seinem Leben einen neuen Rhythmus, egal ob auf der Straße oder vor der heimischen Anlage mit großen Boxen. Noch brutaler waren nur Death, Obituary, Morbid Angel, Bolt Thrower und Grindcore. Vitus tauchte ab in den Untergrund, führte ein Dasein im Verborgenen, immer in Abhängigkeit vom nächsten Konzi und in ständiger Freude auf ein böses Shirt und die nächste Dröhnung zu Hause. In engen, kleinen Clubs fand er eine neue Heimat. Apokalyptische Vokale, überschallende Gitarren, dröhnende Bässe und die dumpfen Explosionen der Trommeln waren genau das, worauf er gewartet hatte. Wie leibhaftige Fegefeuer brannten sie durch die Lautsprecher und machten alles kurz und klein, die nihilistischen Lieder der Zeit. In der Regel fünfzig Leute schauten mit ihm ins selbe Licht (oder in die Hölle). Lange Haare, Bomberjacke, Stahlkappen, Kluft mit Botschaft und tätowierte Totenköpfe gaben ihm Kraft und Stärke. Vitus war verrückt nach Metal, er atmete und er lebte als Metalhead. Bös´, böser, böhse Onkäls: Weiße Teufel mit aufrechten Tönen brachten ihm den Stolz zurück. Zorn und nie endenwollender Haß peitschten das Adrenalin durch seine Adern. Er haßte jeden Mensch (und sich selber gleich mit). Zuschlagen ohne lange zu fackeln. Und auch einstecken. Der Schmerz im Kopf war ein vertrautes Gefühl. Betäubung suchte er bei schnellem Sex und Alkohol. Aber er experimentierte auch mit Hasch und Heroin. Jede Woche führte mindestens eine Reise nach Nirgendwo. Nicht selten dabei ein Flirt mit dem Himmel. Zumindest konnte er sich morgens an nichts mehr erinnern. Aber er war zum Leben verdonnert. Dreimal kam er in der Notaufnahme wieder zu sich. Eine Vertraute und ein Mediziner halfen ihm, mit Lexotanil gut durch den Tag zu kommen. „Aufschwung für die Seele“ versprach es. Er fühlte sich wie auf LSD - bis für ihn eine Spirale in den Wahnsinn begann... Vitus bekam es mit der Angst zu tun. Angst vor allem Möglichen. Besonders vor Menschen. Daran änderte sich auch nichts, als zeitgleich mit Metallicas Schwarzem Album eine schwierige Liason mit rundem Bauch vor ihm stand, und erklärte, er sei der Vater einer Tochter in spe. Am Ende bestand er nur noch aus Panikattacken und Agoraphobie und konnte nicht mehr die eigenen vier Wände verlassen. Nur eine Therapie rettete ihn vorm Abgrund. Vitus schien nicht gemacht für diese Welt.
 
Mauerfall: Mit Speck fängt man Mäuse (Verschwörung)
 
Mit dem deutschen Herbst ´89 kündigte sich eine neue Weltordnung an. Schon bald sollte der Raubtierkapitalismus die Welt in den Abgrund stoßen. Mit der Grenzöffnung läutete ausgerechnet der schicksalsbehaftete 9. November die Talfahrt ein. Elf Monate später - im Oktober anno Scheiße - hatte sich die DDR mit dem fatalistischen Anschluß zur BRD selbst aufgelöst, das Volk sein Herz dem Teufel verkauft. Nun konnten die Strahlemänner und Aasgeier aus dem Westen endlich auf Raubzug im Osten gehen. Sie kamen mit Verlockungen, versprachen blühende Landschaften, Milch und Honig - und machten aus der DDR ein Haifischbecken. Viele rannten blind ins Verderben. Andere, Kriecher, die im Osten für den Sieg des Sozialismus marschierten, standen jetzt im Westen für den Kapitalismus stramm. „Treuhänder“ erschienen als Retter in der Not und plünderten so unauffällig wie möglich die Errungenschaften seiner Heimat. Fabriken wurden in die Knie gezwungen und eiskalt „abgewickelt“, das Beste davon ihrem System vereinnahmt, wie sie es kannten. Existenzen waren millionenfach entwertet und vernichtet. Manche wurden in den Tod getrieben. Häuser, Schlösser und Burgen, Seen und Küsten, Wälder und Ländereien - das ehemalige Volkseigentum! - rissen sich Investoren und Spekulanten unter den Nagel. Es waren die Totengräber der DDR. Deutschland hatte nun zwar keine Mauer mehr, aber tiefe Gräben. Schurkische Lumpen nahmen auch Vitus weg, was einmal wichtig war. Den Ort, mit dem er durch Geburt, Liebe und Erinnerungen verwachsen ist, wo er seine schönste Zeit hatte: das Land, daß einmal seinen Großeltern gehörte, die Heimat, die Vergangenheit - das Familienanwesen. Damit war auch der Zerfall der Blutsverwandtschaft besiegelt. Vergessen wird das niemals!
 
Romeo und Julia
 
In der Melancholie des Novembers 1992, tief im Strudel aus wilden Orgien und einsamen Nächten, hatte Vitus ein Rendezvous mit einem zauberischen Geschöpf. Sie war eine zarte Mädelgestalt mit langen blonden Haaren, geheimnisvollen dunklen Augen, leuchtend weißer Haut und Kussmund; war klug, voller Geduld und stand auf Punk, Indie und Grunge. Bei Kerzenlicht durchplauderten sie eine Nacht in einer Frankfurter Mansarde, hörten Platten von GG Allin bis zum Tagesanbruch, teilten ein schmales Bett - und blieben zusammen. Als Romeo gab Vitus seiner Julia den Spitznamen der Heldin aus „Wild at Heart“: Peanut. Peanut brachte Leben, Liebe und Hoffnung zurück in Vitus´ vereinsamtes Leben. Sie versüßte ihm das irdische Dasein. All die schweren Gedanken gingen, und alles schien möglich. Die neue Liebe und ferne Götter haben ihn in den beiden Metaldekaden immer wieder von üblen Substanzen gesäubert. Ohne Peanut wäre Vitus nicht mehr hier. Daß er die Frau seines Lebens gefunden hatte, begriff er erst tausend Jahre später. Wie dem tragischen Liebespaar Romeo und Julia sollte das Leben Vitus und Peanut Steine, Freuden und Schrecken in den Weg legen............
 
Doom
 
Mit den Neunzigern fielen Speed-, Thrash- und Death Metal in Trümmer. Die Akteure hatten ihre Seelen verkauft. Nur eine Handvoll brachte es fertig, die alten Ideale hochzuhalten. Vitus schwor der Bewegung ab und verlor sich einige Jahre zwischen nichtigen Entartungen. Die Neunziger waren wirklich scheiße. Auf der Suche nach Tiefe entdeckte er den unterschätzten Doom. Nachdem ihn die erste Generation um Candlemass und Trouble nicht sonderlich anmachen konnte, verknallte sich Vitus Anfang der Neunziger umso heftiger in die Schneckenmusik von Cathedral, Eyehategod, Solitude Aeturnus und Saint Vitus. Solche Musik wurde damals nicht oft gemacht. Er verschwand in einer Welt von Nebel und Finsternis und in Ozeanen aus Tränen, endgültig resignierend vor der grausamen Wirklichkeit. Und war zugleich geheilt. Im Wissen, daß jemand genauso denkt und fühlt wie er. Fortan war Vitus geradezu manisch süchtig nach Langsamkeit, Tiefe und Schwere, dem „Doom-Gefühl“, wie Junkies nach ihrem Stoff.
Heimkehr
 
Lange war Vitus Sachsens verlorener Sohn. Bis ihn sein Mädel zu einer unerwarteten Reise nach Ostdeutschland ersuchte. Er sollte ihr die Stadt zeigen, in der er 1984 zum letztenmal gewesen war. Im September 1996 war es soweit: Mit bis zur Kehle schlagendem Herzen kehrte er in die ehemalige DDR und die Stadt zurück, in der er so viel Schönes und Schlimmes erlebt hatte: Dresden. Hier ging das Leben seinen Gang. Es hatte sich nicht viel verändert. Elbflorenz hatte sich etwas herausgeputzt, die Straßen sahen glatter aus, waren aber auf vielen Abschnitten immer noch mit dem alten Pflaster bewehrt. Im Grunde war alles wie eh und je. In den Adern der Menschen floß Sachsenblut. Sie fuhren nach Bannewitz, den Ort seiner Kindheit, der noch immer einem Paradies glich, doch für Vitus bittere Erinnerungen weckte. Eigentlich wollte er nie wieder dorthin zurückkehren. Im Haus seiner Großeltern waren Fremde. Er mußte lernen, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Der geliebte Großvater war damals schon bald nach ihm gegangen. Doch die Oma war noch da, der Vater und die schon geisterhafte Mutter. Es blieb eine kurze Zeit, die Vitus aber nachhaltig berührte. Gern wäre er an der Elbe geblieben, wo aus seiner Sicht alles viel echter und gemütlicher war als im Westen. Die zwei Wochen im Dresdner Sportinternat machten ihm klar, wo er hingehört. Der Abschied war eine Geschichte voller undefinierbarer Wehmut, traurig und hoffnungsvoll zugleich. Zurück in Frankfurt hatte er nur ein Ziel: Er mußte wieder nach Dresden.
 
Diener und Herren (Verdammnis)
 
Seinen Unterhalt verdiente er in Rechenzentren. Die maschinelle Verarbeitung von Informationen, die Komputertechnik, hatte zu Beginn des Digitalzeitalters - Mitte der Achtziger - noch etwas Geheimnisvolles. Damals waren Komputer noch mit Lochkarten und Magnetbändern betrieben. Neben rosigen Aussichten und der schnellen Mark bot die Wissenschaft aus Bits und Bytes überdies Schlupflöcher jenseits moderner Sklaverei. Zwei Jahrzehnte stand er dem virtuellen Tagwerk Gewehr bei Fuß. Oft mußte er sich verbiegen, aber er hat sie ertragen: die leeren Augen, kalten Herzen, rationalen Stimmen, die kühle Logik der Kopfmenschen, die Knute des tyrannischen Vorgesetzten, den Druck, die Demütigungen, die gesellschaftlichen Zwänge, den menschlichen Bullshit. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Immer und immer wieder von vorn. Bis ihn der grenzenlose Kapitalismus und die digitale Revolution nicht mehr brauchten. Weltweite Internet-Tagelöhner übernahmen Aufgaben, die früher in Deutschland erledigt wurden - mit verheerenden Folgen für Leute der Mittelschicht. Im Jahr der Weltwirtschaftskrise ersetzte eine indische Krake seinen Job und schloß die Firma wenig später. Einerseits eine Erlösung, denn am Ende war er von unmenschlicher Arbeitsverdichtung und wachsendem Leistungsdruck in der geschlossenen Welt eines Arbeitsortes aller Freude beraubt. Andererseits mußte er mit einem Schlag viele kleine Annehmlichkeiten, die das Leben verwöhnten, aufgeben. Was ihm immer ganz selbstverständlich war, war nun schlagartig nicht mehr.
LSD (Long, Slow, Distance): Gerade noch mal die Kurve gekriegt (Buße)
 
Um die Jahrtausendwende beschloß Vitus, die Psyche runterzuschalten, besetzte Häuser zu meiden und sich vor schmuddeligen Klubbühnen rarer zu machen. Abschied zu nehmen auch vom sonnigen Süden, der Trägheit, Lust und Völlerei unter Palmen, dem Plätschern im Meer, den Sonnenaufgängen wie Campari Orange und Sonnenuntergängen wie Blue Curacao - den kleinen Freuden des Lebens (von denen nicht mehr als schöne Erinnerungen und geklaute Hotelhandtücher blieben). Er besann sich auf die alten Ideale. Wollte sehen, was der geschundene Körper noch hergab, wieder die eigene Kraft spüren. Und zugleich auch selbst was aufziehen. Nach einem ersten Abenteuer 1999 in Frankfurt schlich sich der Marathonlauf Schritt für Schritt in sein Leben. Die 42,195 Kilometer heldischen Ursprungs. Mythos und Marter, Triumph des gesunden Körpers über das schwache Geistreiche. Bald nahm die Affäre „LSD“ obsessive Züge an. Nachdem er zehn Jahre bei Wind und Wetter auf den Flußpfaden der Nidda „lang, langsam und weit“ der verlorenen Zeit hinterhergejagt war, nachdem er für Volks- und Waldläufe mit Rucksack beladen durch Dörfer und Städte getingelt war, nach einundzwanzig verzweifelten Marathonkämpfen und nachdem er schon mehrmals damit Schluß gemacht hatte, war Vitus in Berlin 2008 im Alter von 46 Jahren endlich reif für etwas, was nur ganz wenige schaffen: einen Marathon unter drei Stunden zu laufen. Rotterdam bedeutete mit 2:52 Stunden später den persönlichen Weltrekord. Dreizehnmal sollte er die Marathonstrecke unter der magischen Marke laufen, zweimal fehlten wenige Sekunden. Gleichzeitig begeisterte er sein Mädel für die Schinderei. Die Aktionen wurden immer verrückter - bis sie schließlich zusammen die Zielstriche auf der Boylston Street, The Mall, hinterm Brandenburger Tor, auf dem Columbus Drive und im Central Park sahen. Die fünf mystischen Kämpfe von Boston, London, Berlin, Chicago und New York waren die Abenteuer ihres Lebens. Und eine alte Liebe wurde wieder wach: Nach zwanzigjähriger Verweigerung stieg Vitus wieder auf ein Rad und suchte auf den groben Stollen eines Mountainbikes kleine Fluchten übers Land. Im elften Jahr der sportlichen Auferstehung wurde er Teil von Spiridon Frankfurt. Peanut schloß sich kurz darauf an. Ab Dezember 2008 lief Vitus täglich. Am Niddaufer kannte er jeden Zentimeter. Nur die Quelle sah er nie. Achttausend Meter davor verlor sich die Spur. Mit der Winterwende 2010 machte er seine erste Erdumrundung seit Beginn der Aufzeichnungen mit dem Frankfurt-Marathon 1999 perfekt. Im August 2011 führte er eine Läuferin aus dem Marathonland Äthiopien zu ihrem ersten Lauf über vierzig Kilometer. Anschließend schlug diese ein Kreuz. Das veränderte sein Läuferleben. An der Seite der Äthiopierin fühlte er sich wie ein junger Gott. Nie war er so stark wie in diesen zwei Jahren. Bis Vitus spürte, daß er verletzlich ist. Im Frühling 2012 kam es zum abrupten Ende des Kapitels Marathonlauf, als ihm beim letzten Training vorm Hamburg-Marathon ein Muskel riß. Von diesem Schicksalsschlag hat er sich nicht wieder erholt, er war ein Bannstrahl. Nach einem letzten verzweifelten Aufbäumen im Folgejahr in Berlin hing Vitus die Schuhe an den Nagel.
Katharsis
 
Im Februar 2003 machten sich Peanut und Vitus auf eine Reise, die ihre Welt aus den Angeln hob: zu den winterweißen Tagen im Hohenloher Land mit dem ersten „Doom Shall Rise“. Sechzehn Gruppen, zwei Tage lang das übersinnliche Fest der Seelenverwandten. Herr Fopp persönlich führte Vitus und Peanut von der Straße weg in den inneren Kreis der Doom-Bewegung. Im verschneiten Engel-Keller tauchte auch ein Mann aus dem Jerichower Land auf. Sie freundeten sich an. Zauberelixier strömte und Hotelkorridore begannen sich spektakulär zu verbiegen. Beim Ritual an sich hatten sie das Gefühl, daß die Halle die Vibrationen nicht aushalten kann. Alles wackelte, alles schwang, die Luft schwirrte, der Boden bebte, lange Haare begannen zu rotieren, Leute verloren vor Begeisterung die Beherrschung. Für Augenblicke hielt sogar die Zeit an. Über jedem Konzert, was noch kommen sollte, schwebte fortan der Geist von Crailsheim. Und die Geschichte wiederholte sich... Vitus hatte viel vor. Der Gedanke, selbst einen Doom-Klub mit Ladengeschäft aufziehen, schwebte schon lange in seinem Kopf herum. Er schmiedete Pläne für ein Doom-Festival. Aber mit guten Ideen lassen sich keine Rechnungen bezahlen. Dazu hemmte der Dienst in Frankfurt die Umsetzung... Im Sommer 2003 folgte im sächsischen Roitzschjora das nächste prägende Ereignis: die Begegnung mit den magischen Saint Vitus. In Ehrfurcht durfte er Dave, Wino, Marc und Armando die Hand reichen und entschwebte in ganz andere Sphären. Peanut bekam im Arm von Wino sogar ein inneres Wetterleuchten... Überhaupt Crailsheim, Langenzenn, Nürnberg, Göppingen, Gent, Rotterdam, Würzburg, Huy, Brüssel, Edinburgh! Zusammen mit seinem Mädel purzelte Vitus dort in überwältigend lebendige Traumwelten. Sie trafen Fremde und Irre, Rocker und Doomer, verschlagen grinsende Langhaarige und total zugeknallte Kuttenträgern in Bandshirts, verirrte Seelen und religiöse Fanatiker unter filzigem Bart und ungezähmtem Haar, den obskuren Schulz und den finsteren Todesengel Stuart West, den maßlosen Kishde und den blonden Recke Hulle, kriegten die Launen der Kahlköpfe Kalle und Micha zu spüren, und durften in die heiligen Hinterzimmer der Akteure. Es waren kleine Begebenheiten, die für immer in Vitus´ Gehirn waren: das Auf-den-Knien-Anflehen des Drumsters von Gorilla Monsoon um eine Auftrittschance bei Doom Shall Rise, die dicke Lieferung von Low Man's Tune, die Zuwendungen der jovialen Onkels Boris und Sebastian, ganz persönliche Geschenke wie die Holzschatulle der Österreicher Osdou, eins von nur fünfzehn Shirts von Tollwuet, der Geburtstagssekt von Gröbel, die Belieferung mit Demo-Material, darunter das jährliche von One Past Zero, Einladungen auf Gästelisten... Das waren keine Budenzauber oder bloß Konzerte - das war Freundschaft und Wärme, Panzerschokolade fürs Hirnkästchen. Zwischen Kalle, Micha, Peanut und Vitus bestand so was wie eine psychosexuelle Liebesbeziehung. Einzig die Gründung einer eigenen Drone-Doom-Gruppe mit Frau am Sechssaiter und den Männern an Bass und Trommeln, blieb ein unerfüllter Traum. So kurios und höchst unterschiedlich diese Figuren und Kinder der Finsternis auch waren, so spannend und interessant deren Seelenleben: Sie haben viele kennengelernt, und sich zusammen mit ihnen zurück in die alte Zeit versetzt. Die Nächte waren lang und magisch, die Charakter einwandfrei, die Gefühle echt und ehrlich. Die Freude am Doom und die rituellen Gelage in lausigen Pensionen konnte ihnen sowieso niemand nehmen, unabhängig davon wie mächtig der Kater auch war. Es waren die rauschendsten und schönsten Feste ihres Lebens. Doch einer um den anderen kam in die Jahre. Jeder lebte sein Leben. Festivals endeten. Mit dem letzten Doom Shall Rise wurden auch wunderbare Freundschaften auseinandergerissen. Manche Spur verlor sich für immer............ Als Erinnerung an diese Tage lagen liebevoll geschnürte Päckchen mit Doom-Musik im Briefkasten. „Für Heiliger Vitus“. Die hat er nächtelang rauf und runter gehört. In manchem Begleitheft war sogar sein Name abgedruckt. Und das Wahnsinnigste: In Rotterdam wurde er von Saint Vitus´ Wino auf eine Flasche Bourbon in eine Rumpelkammer entführt. Völlig unmöglich, das zu vergessen! Danke, ihr Verrückten!
 
Schmutziger Glanz und bunter Abschaum (Zorn)
 
Nach drei Jahrzehnten in der falschen Zeit, der falschen Stadt und unter falschen Leuten kam Ende 2012 ein wahrer Befreiungsschlag. Notgedrungen und bestärkt durch sein Mädel, schaffte Vitus es raus aus einem Wohnturm in Frankfurt. Fast zwanzig Jahre lang hatten sie die Wandlung ihres Viertels Rödelheim von einem ruhigen, fast niedlichen Ort mit ältlichen Schenken, krummen Gassen und holprigen Wegen über eine schleichende Übervölkerung bis hin zu einem vertierten, verzeckten und sich selbst überlassenen Loch durchlebt. Aus den einst wilden, leeren Uferwegen an der Nidda wurden Asphaltpisten für den Pöbel. Sie hatten sich in Grabenkämpfen mit dem Feind aufgerieben und den Abfall des Lebens erlitten. Doch der Verfall und Niedergang war nicht aufzuhalten, das eigene „Zuhause“ in den besten Ecken ein morscher Problembau, der Rest Affenzoo oder Kriegsgebiet. Draußen traf man auf Hetzparolen an der Wand, bespuckte Wege, Spielhallen mit dreckigen Gestalten davor, osteuropäische Bettelclans und Wanderhuren, illegales Gesindel, multikriminelles Ungeziefer. Hinter jeder Ecke lauerten Haß und Gewalt. Am Ende war Rödelheim fremdgeprägt. Es war eine Art Sodom, das Ende der Zivilisation. Eigentlich konnte man ohne Waffe gar nicht mehr aus dem Haus gehen. Gut, daß der Abzug zur rechten Zeit kam!
Zerkratzt im Idyll (Verfolgung)
 
Vorm Fall in die Obdachlosigkeit sind sie im Winter 2012 an einen Ort gezogen, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen: in die weiche Landschaft der Wetterau. Dort hatten sie plötzlich ein halbes Haus ganz für sich. Die neue Herberge war umgeben von Gehöften, Einsiedelein, der Kulisse des Taunus - und lag im Schicksalsverbund zur Nidda: Zweiundvierzig Kilometer flußab - eine Marathondistanz entfernt - vereinigte sich die Nidda mit dem Main. Was einst der römische Schutzwall Limes erledigte, tat jetzt der Raum. Mit dem „ersten Dorf hinter Frankfurt“ waren sie an einem sicheren Ort, hier lag das Böse weit weg. Nur die Pfeiler der Bankenstadt dämmerten bei lichtblauer Nacht und klarer Luft wie das Babel einer schweren Zeit am Horizont. Sie waren jetzt unter einfachen Leuten, Altvorderen und Aussteigern - aber auch unter richtigen Dreckbauern, bornierten Rasenmäherspießern, aufgepumpter Großmannssucht und bigotter Nachbarschaft, die nur ihre schreiende Kinderschar kennt. Die Einheimischen blieben mißtrauisch unter sich, manchen klappte beim Anblick der zugezogenen Stadtflüchter auch die Kinnlade runter. Mit täglichen Läufen hielt Vitus sich in Schwung. Er liebte die Tiefe, die man draußen in der Natur und auf dem Land viel besser greifen kann. Die Wege durch den Jungfern- und Rauwald. Rehe, Hasen und Störche waren da, nie ein Mensch anzutreffen, fern der Großstadtlärm. Es war alles wie aus der Zeit gefallen. Aber Weh dem, der keine Heimat mehr hat!... Während sie in der Wetterau Ruhe fanden, legte sich die Abgeschiedenheit wie ein dunkler Schleier über Vitus. Jetzt fühlte er, was Stille und das Gefühl von Verlorenheit mit einem anrichten können. Gleichermaßen vernagelte ihm das Verlangen nach immer mehr erotischer Beglückung buchstäblich alle Sinne. Den ganzen Tag wollte Vitus Sex - und mußte sich mit sich selbst und den Spinnen im Haus als einzigen Gefährten mit der ausweglosen Situation auseinandersetzen. Oft lag er tief in der Nacht wach oder stand auf in der Blauen Stunde am frühen Morgen. Im Grunde hatte er sogar Angst zu schlafen. Sein Leben kannte keinen festen Ablauf mehr. Er folgte dem, was für ihn am besten war, lebte nach einer eigenen Uhr, aß, wenn er hungrig war, schlief, wenn er müde war. Die längste Zeit tauchte er ab in Fiktionen, verlor sich in Tagträumen oder saß als einsamer Mensch an einem Komputer. Nachdem sich Peter Steele und Armando Acosta 2010 aus dem Leben geschlichen hatten, wurden 2013 mit Jeff Hanneman und Joey LaCaze weitere Menschen, die einem über viele Jahre nahestanden, tot aufgefunden. Keiner schien sich in diesen Tagen in seiner Umgebung sonderlich wohl zu fühlen. So starben die Sommer, verstrichen die Jahre - oft wochenlang isoliert vom „Leben“. Ein verwitterter Jägerzaun markierte die Grenze zur Außenwelt, wo alle paar Wochen ein Klub ein Konzert ausspuckte und ein Festival geradezu dem Polarstern glich. Aber sie sollten nicht lange allein sein. Schon bald machte sich die Gier nach immer mehr auch in der Wetterau breit. Ein riesiges Maschinenheer war gegen das letzte ländliche Refugium ausgerückt. Erdzerstörer zerschnitten den fruchtbaren Boden mit Asphaltstraßen und betonierten ihn mit Gebäuden zu. Als dann auch noch das Trojanische Pferd voller fremder Scharen in ihr „Wöllscht“ drang, war das Idyll endgültig ausgelöscht. Wie in einer besonders fiesen Laune des Schicksals wurden sie von Zugewanderten aus ihrem Haus vertrieben. Damit türmten sich Katastrophen. Das Pendel schlug mit ebensolcher Wucht zurück, wie es zuvor für Frieden gesorgt hatte. Verdrängte Tatsachen warfen unversehens ihre Schatten auf zwei Menschen, die verschiedene Heimaten hatten, ans Geldverdienen in der großen Stadt am Main gebunden waren, und nun drei Monate Zeit hatten, ihr Leben zusammenzupacken - dann wurde geräumt. Die Ruhe und Unberührbarkeit, die sie einst in der Wetterau erlebten, die Vitus erst euphorisierten, seine Gedanken dann im Kreis drehten, versetzten ihn schließlich in einen Zustand, aus dem es ihm nicht gelang, auszubrechen. Ausgerechnet seinen Körper, über den er sich stets definierte, hatte er plötzlich nicht mehr im Griff. Sport war Vitus´ Leben. Was bleibt, wenn das nicht mehr geht? Was vor einem Vierteljahrhundert schon mal in sein Gehirn kroch, kam wieder wie ein finsterer Dämon der Vergangenheit: Panik! Es kam zum Teil so weit, daß er nicht einmal eine leichte Steigung hinaufgehen konnte. Am Ende eines ganz üblen 2015 beschloß Lemmy, seinen Whiskey in anderen Sphären zu trinken.
„Immobilien“: Unter der Eiche
 
Ein halbes Jahr nach Lemmys Abschied, nach einem kurzen, aber drastischen Martyrium, kehrten Peanut und Vitus an Leib und Seele ruiniert zurück nach Frankfurt, der Stadt, der sie doch eigentlich schon entwischt waren. Dieser Ortswechsel war übereilt, nie gewollt, und er schüttelte ihr Leben binnern kurzer Zeit erneut vollends durch. In größter Not hatten sie ihr virtuelles Geld zu Wänden aus Stein und Holz gemacht. Hatten in der vorm Krieg gegründeten Siedlergemeinschaft „Frankfurter Berg“ eine Volkswohnung erworben, sich in einem Holztafelhäuschen mit viel Boden und Wohnrecht auf Lebenszeit behaglich eingerichtet. Anfangs logierten auf der Anhöhe jenseits im Norden der Mainstadt Arbeiter; später - als alle Welt an eine Hauptstadt Frankfurt glaubte - Bedienstete vom Bund. In den Achtzigern tobten hier Krawalle zwischen Punkern und Skins, Junkies kamen an alle möglichen Drogen, täglich waren Grünkittel im Einsatz. Davon ist nichts geblieben. Nach dem Abzug der Amis schlummerte der „Berg“ im Sommer 2016 ruhig vor sich hin. Sie lebten wieder in ihrer eigenen Welt; führten ein ebenso bescheidenes und zurückgezogenes Dasein in den Gehölzwegen. Waren erreichbar nur über einen schmalen Wohnweg, der ihnen die Menschen vom Leibe hielt. Mit leise rauschenden Bäumen vorm Fenster, einer Eiche im Garten, Grillen in der Dunkelheit, Katzen, gefiederten Himmelsstürmern und einem Igel unterm Verdeck, und Ausblicken auf die Wolkenkratzer der nahen Stadt und die sanfte Bergkette des Taunus. Doch die traumatischen Erlebnisse der letzten Jahre hatten sich tief in Vitus´ Kopf eingebrannt. Solange er denken konnte, hatte er den Sport in der Natur mehr als sein Leben geliebt. Nun blieb er manchmal wochenlang in den eigenen Wänden verschanzt; beschloß, die Höhle nur noch zu verlassen, wenn Durst und Hunger ihn plagten. Der Rückzug führte in eine vollkommene Isolation, die niemand außer Peanut durchdringen und stören konnte. Er nahm alles wahr, aber niemand sah ihn. So tippte er triviale Berichte von Konzerten nieder, denen er mehr als überdrüssig war. Im Grunde hatten sie nur einen Vertrauten und Gleichgesinnten auf dem „Berg“: einen zottigen, zahnlosen Schrat. Der hatte ihnen zum Einzug ein Teelicht geschenkt - damit sie in der ersten Nacht im Garten etwas sehen können. Mit seinem Tod starb der Bezug zu diesem Ort.
 
Der Untergang des Abendlandes (Fluch der Götter)
 
Es dauerte nicht lang, da war das lästige Familientum, das sich über die unkontrollierte Vermehrung seiner Kinder definiert, zurück. Es brachte neues Unheil über Frankfurt. Plötzlich befanden sie sich im Kreuzfeuer von Wildfremden, die anders aussahen und handelten, und ihre grundverschiedenen Welten und Ansichten durchsetzen wollten. Ihr Garten zeigte, wie brutal und feindselig sich Menschen begegnen können, wie sie Tieren gleich um ihr Revier kämpfen. Aller Frieden war zerstört, die süße Stille dieses Platzes einem Sodom und Gomorrah gewichen, alles von blankem Haß und Vergeltung vergiftet. „Scher dich heim Alter. Endlich!!“, hatte ihm ein Freund vor langer Zeit ausgerichtet. Jahrelang hatte eine mysteriöse Frau Vitus daran gehindert, hatte er auf ein Wunder gehofft. Nun drängte die Zeit. Vitus hatte alle Energie, jeden Mut und Glaube verloren. Bevor er von inneren Ängsten und nächtlichen Dämonen zerfressen wird, mußte er schleunigst heimfinden. Mußte dahin gehen, wo alles begann, wo schon seine Ahnen geboren wurden, wo auch er zur Welt kam und aufwuchs, wo der neue Morgen dämmert, wo alles anders duftet, wo die Menschen vom gleichen Wesen sind, wo er zum letzten Mal Glühwürmchen sah. Zum Ort, wo Herz und Seele Heilung finden. Als Vitus mit seiner Gräfin von der vierten Suche nach einem neuen Domizil in Dresden zurückkehrte, hatten sie plötzlich zwei Daheims. Dreiunddreißig Jahre nach seiner Flucht aus Dresden bezogen sie im Frühling 2017 eine Bude in Sankt Pieschen an der Elbe. Nie zuvor lebte Vitus so nah am Schicksalsfluß mit der lieblichen, stillen Seele, der manchmal so grausam und verheerend sein kann. Am Ufer öffnete sich der Blick aufs unfaßbare „Elbflorenz“. An vielen Stellen lebte die lange untergegangene DDR fort. Jetzt sollte ihnen ein sorgloses Leben vergönnt sein. Aber etwas in der „Gesellschaft“ passierte. Millionen von Männern hatten immer wieder ihr Leben geopfert, um den heiligen Boden ihrer Heimat zu verteidigen. Bis sich immer mehr Außerirdische ungehemmt ansiedeln konnten und das Ureigene in Besitz nahmen. Mit einem Maß Hochmut, die kaum zu ertragen war. Mörder und Räuberbanden kamen übers Meer. Bald glich das Land mit seinem Sprachengewirr dem Turm zu Babel. Jeder spürte es, jeder sah es und jeder wußte, was hier los war. Auch seinem Sachsen wurde so eine schwere Last eingesetzt. Doch anders als sonstwo dachten die Menschen gar nicht daran, ihre Heimat aufzugeben. Jemand mußte dem Grusel ein Ende setzen! Wird die achte Wegstation die letzte sein? Eine schwere Entscheidung. Vitus und Peanut hatten schon viele Nöte überstanden. Nun waren sie zum ersten Mal ratlos, wurden zu rastlosen Wanderern zwischen der Welt im Westen und der im Osten - begleitet von einem Gefühl der Heimatlosigkeit.
 
Wiedergeburt und letzte Mobilmachung
 
Das vielleicht Besondere an Vitus ist, daß er trotz allem, was er erlebte, noch aufrecht gehen kann. Immer und immer wieder wurde alles zerstört, woran er glaubte, wo er meinte, Heil zu finden, was sein Leben ausgemacht hatte. Der Takt der Umwälzungen war so schlimm, daß sein Herz den eigenen verlor. Was er in den drei Jahren fühlte, war die erschreckendste Zeit in seinem Leben. Durch Nahtoderfahrungen schwer angeschlagen und von Panikattacken gequält ließ er Pfingsten 2018 Mediziner an sich ran. Ohne OP wäre er gestorben. Nach einem Eingriff mit neuer Methode schlug sein Herz wieder ruhig und fest wie ehedem. Mit morschen Knochen, noch wundem, aber heilem Herz, traute Vitus sich am Ende des heißen Sommers 2018 in Begleitung seines Mädels auf ein Rad. Auf eigene Faust. Fünfzehn Kilometer die Elbe hinab. Fünfzehn hinauf. Stunden später erstand er zusammen mit einem Freund aus Dynamozeiten ein Rennrad Made in Germany. Goofy hatte er nach fast vierzig Jahren im Krankenhaus wiedergetroffen. Dessen erste, hoch erstaunte Worte waren: „Ich dachte, du bist tot...“ Genau so wurde Vitus´ Verschwinden Anfang der Achtziger in den Westen in Radsportkreisen erklärt. Am ersten September wagte er die ersten Laufkilometer an der Elbe. Nun wußte Vitus, daß er alles wieder machen kann. Und er hatte noch was vor in seinem Leben.
 
Einsamkeit im Leiden, Friedhof auf Rädern
 
Mit dem wandelnden Radsportlexikon Goofy erinnerte sich Vitus an seine Jugendliebe, die er schon lange aus seinem Leben verbannt hatte. Stundenlang redeten sie über die alten Zeiten. Sein Herz hing immer noch am Radsport, aber alles war anders - das Material, die Menschen, die Mittel. Im Schnelldurchlauf grub er sich nun in eine Welt, die er zwar von früher kannte, von der er jedoch kaum Ahnung hatte. Schlanke, handgeschmiedete Stahlrahmen waren superleichter Kohlefaser gewichen. Niedrige Felgen aus Aluminium hatten gegen hohe aus Carbon keine Chance. Aus sechs Ritzeln waren elf geworden. Die Schaltung funktionierte nicht mehr über mechanische Bowdenzüge, sondern elektronische Stellmotoren, die Hebel waren in den Griffen verschwunden. Statt in Haken und Riemen steckten die Schuhe in Klickpedalen. Scheibenbremsen verdrängten die Felgenbremse. Und anstelle von Wolltrikots trugen die Rennfahrer eine hauchzarte Hülle aus Kunstfasern. Die Rennmaschine allein hatte um drei Kilo auf siebeneinhalb abgespeckt. Vieles konnte er nicht verstehen. Aber es wirkte wie ein Jungbrunnen auf ihn. Im Herbst 2018 folgten die ersten langen Ausfahrten. Bald schon füllten sich Vitus´ Lungen wieder tiefer mit Luft, bauten die Beine neue Kraft auf, keuchte er schneller durchs Felsenreich der Sächsische Schweizn und die Höhen des Erzgebirges und des Taunus, war er wieder gefangen vom Lied der Straße, dem Geruch der Luft, dem Surren der Reifen, dem Gefühl, über die Erde zu fliegen - war er wieder besessen vom Radsport. Nur der Geist wollte keine Ruhe finden. Denn neben der zermürbenden Einsamkeit des Rennfahrers, mußte er die Sinne über Stunden maximal scharfstellen auf den Todfeind: das Auto. Die Chausseen, auf denen er als Junge heimisch war, war von einem Mahlstrom aus tonnenschweren Blechriesen entweiht worden. Auf der „Sechs“, der „Hundertsiebzig“ und „Hundertzweiundsiebzig“ herrschte Krieg, andere waren für ihn sogar verboten, das eigene Überleben regelmäßig eine Frage von Zentimetern. Oft hatte er Todesangst. Auf seine alten Tage kehrte Vitus zu seinem früheren Radklub zurück, der nun Dresdner SC hieß. Plötzlich war er zurück in der magischen wie gefährlichen Welt des Sports. Am zwanzigsten April feierte er seine Wiederkehr auf der Grand-Prix-Strecke des Sachsenrings. Ein Blitzkrieg. Denn die alten Rennschlachten von heroischer Länge waren dem Geld zum Opfer gefallen; Sportler der Willkür von Kampfrichtern ausgeliefert - oder bis in die kleinste Faser voller Stimulanzien, Anabolika und Epo. Rennen wurden schnell, eng und aggressiv ausgetragen. Immer wieder kippte das, was eigentlich Freude sein sollte, in eine Mischung aus Wut, Ärger und Verdruß... Derweil fiel der Doom in einen ewigen Schlaf. Mit dem Nürnberger „Low Frequency Assault“ war vierzehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen Ende 2018 der letzte Fixstern am Himmel der Doom-Feste verglüht.
Gefallen mit den Engeln
 
Am Ende eines quälerischen und bedrohlichen Jahres 2019 verschwand Vitus´ Mutter nach langem Kampf in elendiger Umgebung so mir nichts, dir nichts ins Himmelreich. Ganz schnell. Ohne Lärm. Fast hätte es niemand gemerkt. Aber sie hatte ihn verlassen. Sie konnten noch nicht mal Abschied nehmen. Ein roter Umschlag, den sie ihm nach fünfunddreißig Jahren geben wollte, erreichte ihn zu spät. Den Verlust der Mutter konnte Vitus nie verwinden. Seine Mutter war Dresden, Dresden war seine Mutter. Auch wenn er immer weit weg war. Über Nacht wirkte die Stadt wie erstarrt. Die Elbe, die Häuser, die Straßen: Alles schien bis in den äußersten Winkel Dunkelheit auszuströmen. Die Gräber auf dem Friedhof nahmen Gestalt an und schienen trauriger und schöner als je zuvor. Diese ganze irdische Welt war ein unwirkliches, kaltes Mausoleum. Aber wenigstens konnte kein Leid, kein Schmerz, keine Pein seine Mutter mehr berühren. Dort, wo sie jetzt war, ging es ihr besser. Kurz darauf ging ihr Bruder weg, zweieinhalb Jahre später ihre erste Liebe, Vitus´ entzweiter Vater. Die Suche nach Unterlagen führte die Reste der entfremdeten Verwandtschaft zusammen und brach aufgestaute Wut auf. Erinnerungen an verschüttete Träume, dunkle Geheimnisse und seit Jahrzehnten schwelende Lügen kamen ans Licht. Seelische Verletzungen, die Unmöglichkeit zur Verständigung und Mißgunst und Gier der Hinterbliebenen hebelten den festen Glauben an die Musterfamilie, für die Vitus immer seine Hand ins Feuer gelegt hatte, vollends aus. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so getäuscht, jemanden so falsch beurteilt. Doch auch sein Bruder tauchte nach vierzig Jahren trauriger Funkstille als letztes Bindeglied zu seiner Kindheit und Jugend in der DDR wieder auf. Während ihm nach und nach das Leben entglitt, wurde sein Mädel im Sommer 2020 von einer existenziellen Bedrohung heimgesucht. Die Zeiten der feudalen Vergnügungen schien vorbei. Sie klammerten sich an den Sport. Vierzig Jahre nach seinem letzten Sieg gewann Vitus wieder ein Radrennen. Aber sollte er seine Jahre weiter damit verbringen, Erfolgen nachzujagen, um auf ein Treppchen zu klettern? Um das aus immer wiederkehrenden, lebenserhaltenden Verrichtungen bestehende Dasein aufzupeppen, frischte er Erinnerungen an eine aufregende Zeit als Marathonläufer auf, rannte wieder exzessiv, um schwere Gedanken zu vertreiben oder vor sich selbst wegzulaufen, suchte Heil an Orten, die für ihne besonders waren, einen Halt in einer verblassenden Vergangenheit. Sie wird nie wieder kommen. Das Leben in der Stadt hatte Peanut und Vitus nichts mehr zu bieten. Die freie urbane Vielfalt wurde zur trost- und ausweglosen Enge. Von Ruhe und erfülltem Leben keine Spur. Die Beiden würden am liebsten erneut fliehen, doch sie wußten nicht, wohin. Ein erdrückendes Gefühl...
 
Götterdämmerung (Vernichtung)
 
Waren es die Geister, die man rief? Ein unsichtbares Ding, jeden zu knechten? Oder die Verfolgung eines finsteren Planes? Im Frühling 2020 kam ein weiteres schwerwiegendes Ereignis hinzu, welches die Menschen langsam, aber sicher auseinanderriß. Von oben genannt wurde es „Corona“. Wie kann eine ehemals integre Gemeinschaft in Unterwerfung, Verbrechen, Zank und Zwietracht geführt werden? - in einen Faschismus neuer Prägung: die genormte eine Welt. Dazu brauchten die schlimmsten Tyrannen eine fiese Bande niedlicher Gesichter, weiche Gesten und Symbole, und immer neue Schmutzkampagnien. Abermillionen erlebten die Ohnmacht eines Volkes, das vor lauter Freiheit und totaler Demokratie keine Macht mehr hatte. Grenzen und Mauern waren gefallen - und der Einzelne gefangener denn je zuvor. Menschen wurden Maulkörbe angelegt, Andersdenkende mundtot gemacht und immer weiter entrechtet. Über Tote wurde schlecht gesprochen, alles, was heilig war, schön, heldisch und elitär erschien, „entdämonisiert“, beschmutzt, gesprengt, ausradiert. Heimat, Sprache, Geschichte und Kultur sollten ausgelöscht sein, Völkern die Seele entzogen, ein ganzer Erdteil in einen Monsterstaat ohne eigene Mythen verwandelt werden. Nationen starben aus, weil Blut ineinander verschwamm. Denn eine neue Spezies sollte herangezüchtet werden. Mit der Unerbittlichkeit einer antiken Tragödie schritt die Menschenrasse ihren letzten Tagen entgegen, einem Untergang wie ihn sich viele überhaupt nicht vorstellen können. Tiere wurden ausgerottet, Bäume gefällt, Rohstoffe geplündert, Mutterboden versiegelt. Vorzeitliche Landschaften verwandelten sich in kurzer Zeit durch den Eingriff des Menschen in ein apokalyptisches Inferno. Aber Mutter Erde rächte die Gier, den Neid und Hochmut der Menschheit mit dem Zorn der Elemente. Äcker verwüsteten, Wälder brannten, Orkane brausten entfesselt übers Land, Flüsse schwemmten alles weg. Und das war nur ein Vorgeschmack aufs Ende! Vitus erlebte das Versinken von Stätten und Dingen, die lieb und heilig waren: das Verschwinden der Glühwürmchen, den Untergang seines Heimatlands, die Zerstörung der Dresdner Radrennbahn, den Zerfall der Doombewegung, das Ende von Konzerten und Festivals. Wo finstere Wolken ziehen, kann keine Sonne scheinen, muß alles Schöne sterben. Aber was ist Homo sapiens, was bleibt von der Spezies, was vom Sodom und Gomorra der Zeit? Nichts! Was dagegen sind die Mysterien der Natur, die unerschütterliche Ruhe und Würde der Wälder, Flüsse und Seen, wilde Tiere, singende Vögel, ein von niemand gehörter Schwanengesang, das Rauschen von Blättern, murmelnde Wellen, die Gewaltigkeit der Landschaft, ihre Schönheit, die Weite des Weltalls? Tief! Unergründlich! Unendlich! Letztendlich sind wir dem Himmel egal. Peanut und Vitus lagen zusammen am Strand, träumten am Fluß, liefen über ruhmreiche Straßen, begleiteten den Aufstieg und Fall von Doom Shall Rise, verbeugten sich in der heiligen Kapelle des Doom - immer mit den Göttern über ihnen. Nach unvergesslichen Erlebnissen wurde es still um Saint Vitus, Reverend Bizarre, Bunkur und Ophis. Sie würden gern die Geschehnisse der Zeit rückwärts in die Vergangenheit laufen lassen und die ganze Zukunft auslöschen. Alle Feste endeten. Die Erinnerungen sind unsterblich......
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich sehne mich weder nach Leben, noch ersehne ich den Tod. Aber nur weil ich euch das erzähle, bedeutet das nicht, daß ich auch noch lebe............
 
 
Im Herbst MMXXIV