LOW FREQUENCY ASSAULT VII
 
BEEHOOVER, HEAVY LORD, CALDERA, DUST, WALL, PETRIFIED
D-Nürnberg, Z-Bau (Kunstverein) - 11. Dezember 2010
Sonnabend, 11. Dezember (2. Tag)
 
Am Vormittag entzweiten sich die Wege. Derweil Peanut und ich bis halb zehn in den Federn lagen, hatten Micha und Kalle schon ihre Semmeln vertilgt und sich in den Nürnberger Süden aufgemacht. Am Vorabend war aber auch ein junger Mann aus Thüringen eingetroffen, der seinem Brotgeber in die Schweiz folgte. So frühstückten wir heute mit dem Wirtschaftsflüchtling Schleicher, und redeten lange über Sport und die Sportsoldaten in der DDR. Kultur bildet bekanntlich - kann aber mitunter auch verändern: Während Peanut und ich in der Folge Ertüchtigung durch unseren traditionellen Geländelauf in der verschlafenen Winterwelt zwischen Luitpoldhain und Zeppelinfeld betrieben, waren die Gefährten aus dem Osten in einer Lasterhöhle zwischen Trinkern und Zockern gelandet, und kehrten spät und völlig verändert zurück. Aus zwei grundsympathischen Kameraden war ein Duo von Freaks geworden. Während dem gemeinsamen Abendmahl beim Fidschi ums Eck wuchsen die Spannungen - bis wir um sechs zum Z-Bau aufbrachen. Dort gesellten sich zu den fünfzig Leuten mit Festivalpass heute siebzig weitere dazu. Damit lag die Besucherzahl am zweiten Tag bei 120. Fast die komplette Stammkundschaft war beim zweiten Tag vertreten, darunter Mike und Mourner von „Doomed Souls“ und „Doom Metal Front“, ein weiterer schweizer Wirtschaftsflüchtling in Person von Doomvolki vom „Dawn Of Doom“ , Mitglieder von Black Shape of Nexus, Storch Heiner... Lediglich Kurt Winter fehlte. Jener zieht seit geraumer Zeit als Wanderprediger durch Mexiko, um Eingeborene mit Mary Jane zu bekehren.
Den Auftakt machten PETRIFIED. Die Doomer aus Sachsen stellten sich durch Mitglieder der verblichenen Weed In The Head (Maik Buttler), Dreaming (Thomas Schulz) und Subversion (Michael Schaarschmidt) auf - drei Männern, die in Petrified ihre Leidenschaft für den wahren Doom, sprich: obsoleten Doom Rock ausleben konnten. Ihr Auftritt startete gleich mit einigen Krachern. „Under Saturn“, „The Ghoul“ und „Mold Courning“ hießen die Schmuckstücke, die den Charme der Vergangenheit und des Obskuren ausstrahlten. Schließlich spielten Petrified nach Gehör, sie konnten keine Noten lesen! Dann wechselte der Gesang für ein Lied vom kauzigen Organ des Viersaiters zur gequetschten Stimme des Gitarristen. Und schließlich empfingen Petrified mit „The Skull“ Serkan auch noch eine Kultfigur aus alten Tagen. Serkan durfte Saint Vitus´ „White Magic/Black Magic“ besingen, dessen Text er eigenem Bekunden zufolge gar nicht kannte, weshalb er sicherheitshalber einen Spicker auf den Boden legte. Diese Gesten und Geständnisse, die unter die Haut gehende Zelebration, dazu die manisch tiefen Vitusgitarren: Das war mit das Größte der ganzen Nacht! Oder wie es Thomas so schön sagte: „Das war ein Vorstellungsgespräch!“ Der übrige Stoff trieb ins Progressive ab, war nicht ganz so so doomig wie der Beginn, doch trotzdem gern gesehen oder Untergrund pur! Zum Abschied bescherte der Bassist seine Gäste mit Räucherkerzen aus dem Erzgebirge, und schätzte das Mädel an meiner Seite auf „43“.
Wie heißt es in Köln? „Et hätt noch immer jot jejange.“ Doch heute wurde die Grenze überschritten. Kölns WALL waren gekommen, um - Achtung: Selbstironie - „Sludgepop“ durch die Halle zu schieben... Rein äußerlich zeichnete sich das Quartett durch eine kühle Nüchternheit und Distanz aus, wie man sie vom Postrock kennt. Bloß nicht auffallen! Mit „Generic“ ging es los. „Generic“ setzte auf einem dröhnenden Bassriff auf, es wurde von einem Kopfnicker aufgelockert, fiel zurück aufs Hauptriff und endete in einem wilden Solo. Es gab schon einfallsreicheren Doom. Um nicht zu sagen: Wall erinnerten frappierend an Sleep. Auch „A Good Son“ klang wenig besser - dafür umso lauter. Respektive: Es dröhnte wie im Maschinenraum eines Schweren Kreuzers! Bald war mein Interesse niedergeschlagen und der Suche nach Heil fürs Gehör gewichen. Aber selbst einen Stock höher - im leeren Tanztempel „zOOm“, in den ich mit Peanut floh - dröhnten die Bässe noch brutal laut. Eisenbeton ist eben ein starker Leiter für akustische Geräusche - und Steve Albino & Co. schlugen jegliche Dezibelrekorde! Derweil P. und ich schadlos davonkamen, sollten Wall unseren Doombruder Kalle umso heftiger zusetzen... Nach vierzig Minuten waren die Füchse vom Rhein verschwunden.
Auf den Krachexzess von Wall fuhren DUST das reinste Sanatorium auf. Aber kann man auf Heilung hoffen, wenn da fünf vor Adrenalin strotzende Typen vor einem stehen, die auch noch von einem Tier mit gefühlten drei Zentnern verteilt auf zwei Meter angeführt werden? Dust hatten wir vor fünf Jahren beim LFA erlebt. Damals boten sie zornigen, harschen Heavy Doom. Heute hatten sich dazu auch verspielte Siebziger-Rockgitarren in den Sound geschmuggelt. Alles in allem waren die Bielefelder aber wieder die Tiere des Abends. Animalisch, verschroben und radikal bis brutal. Und dies unter unermüdlichen Teufelsanbetungen durch den Recken an der Front. Fast zu Tränen rührend war es dann schon, als der furchteinflößende Karic unserem Armando Acosta mit „Be Warned“ einen Gruß nach drüben in die andere Welt schickte. Der Schlagzeuger von Saint Vitus war mit 58 Jahren an einem Hirntumor gestorben... Dust schloßen mit dem Slowbanger „Dust“ und einer Zerstörung des Mikros samt Ständer, welche Karic mit Bärenkraft zerdrückte. Merkwüdigerweise hatte Karic auch noch dem Bassisten einen Becher vor die Brust geschleudert. Später rempelte der Doc Karic gegen die Wand am Ausgang...
Lange bevor CALDERA das Geviert stürmten, war mir klar, daß sie mir die Katharsis bringen. Schon beim LFA 2006 hatten mich die düster-expressiven Bilder der Franzosen ungemein fasziniert. Meist ist ja die Stilrichtung schon die halbe Miete. Dazu hatte mir der Gitarrist vor dem Auftritt gesagt, daß Caldera neuen, noch dunkleren, noch langsameren Stoff hätten. Also was konnte da noch schiefgehen? Neben einer Verlegung des Hauptquartiers in die Region Grand Est an der deutschen Grenze, waren die Franzosen auch von personellen Umbrüchen nicht verschont geblieben. Nach der Gründung als Quintett und der Fortführung zu viert (mit Frau am Schlagzeug, aber ohne Stimme), hatte man sich heute wieder zu fünft durch den Schnee nach Nürnberg geschlagen. Drei, die ihre Sechssaiter quälten: Christophe L., Claude L. und Rev. 16:8; dazu der hochaufgeschossene Raph an Bass und Gesang, und Christophe K. am Schlagzeug - verschrobene, wortkarge Typen, die die treffende Musik für unsere kalte Welt generierten. Dabei haben Caldera eine Bewegung vom Stoner Doom zum Post-Metal vollzogen. Wobei sie weniger atmosphärisch und um einiges apokalyptischer agierten. Am Ende erschütterte ein gewaltige Explosion die Halle. Wenngleich nur ein Cover von Bolt Thrower, war „The IVth Crusade“ eine Verschmelzung von Kriegsmetall und Doom, wie sie jeder Beschreibung spottet. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Zumindest sollten vier Stücke innerhalb von fünfzig Minuten die Tiefe von Caldera erahnen lassen! Caldera waren eine halbe Stunde vor Mitternacht durch - und das einzige mitgeführte Exemplar von 'Mist Through Your Consciousness' im Nu vergriffen.
Eine Viertelstunde vor Mitternacht hieß es: Geviert frei für die Heftigen Herren aus Holland. Die Haare werden wieder länger und HEAVY LORD starteten mit einem minutenlangen fiesen Hochfrequenzton, der die Ohren bis an die Grenzen marterte! Ferner griffen Steven, Wes Lee, Jeff und Wout heute aber nicht gleich im Hurra-Stil an, sondern ließen es erst mal ruhiger, droniger angehen. Doch nach einer Viertelstunde waren die Jungs warmgeboxt und für die restliche halbe Stunde regierte wieder die durchgebrannte Energie, das heavydoomige Spektakel der Horde aus Rotterdam. Etwas mehr Zurückgenommenheit wäre heute jedoch nicht verkehrt gewesen. Und so wurde der verlassene Kassenkabuff hinter der Bühne für mich zum bestbesuchten Ort. Für viele waren Heavy Lord die wahre Hauptattraktion, und folglich herrschte dicht vor den Helden das reinste Kesseltreiben. (Durch die Auflösung der Kasse drängten ferner auch noch Scharen weiblicher Diskobesucher aus dem „zOOm“ zum Doom.) Leider ist mir beim zigsten Besuch der Niederländer das Gehör für die Einzelheiten abhandengekommen. Weil aber sowieso keine Schau der anderen gleicht, könnte es auch anderen schwer fallen, eine Wiedererkennung zu finden. Ich zumindest weiß nicht, was die Holländer heute gemacht haben. Das Letzte war „für eine Freundin aus Nürnberg, die auch deutsch reden kann.“ Direkt danach wollten unsere Gefährten weg. Micha verirrte sich ins Landbierparadies.
Fremde Beschwörungen wie von einer Elbin aus Mittelerde; langsam anschwellende Klänge vom Band; erste Trommeln, dann ein gewaltig aufdonnernder Bass: Nachts um eins erwarteten BEEHOOVER siebzig verbliebene Gäste. Körperlos wie immer. Denn Meister Petersen und Trommler Hamisch absolvierten ihre Darbietung wie stets sitzend. Diesmal quer zum Publikum gerichtet: der Bassist mit der Stirn zur Wand, der Trommler mit Blick zum Ausgang. Etwas distanziert wirkte das, etwas griesgrämig. Aber auch wie die Gelassenheit der Weisen. Und dies vor den Freigeistern des Kunstvereins, die keine Zeiten und Regeln kennen. Dazu der hohe Promillepegel. Eigentlich taten mir Beehoover als Träger der roten Laterne leid. Aber wider Erwarten drängte sich eine dichte Meute vor der Bühne, um den esoterisch angestonerten Avantgarde-Trip der Stuttgarter zu erleben. Nach den ersten beiden Liedern - gegen halb zwei in der Nacht - hatten Peanut und ich keine Lust mehr auf den Lärm und die Enge im Kunstverein. Mit uns gingen zwei Vermummte, die im Abstand von hundert Metern zum Hotel folgten. Daß es die Gitarrenterroristen von Wall waren, sollten wir Stunden später beim Morgenkaffee erfahren...
.:: ABSPIELLISTEN ::.
 
PETRIFIED
(19.10-19.55)
1. Under Saturn
2. I, The Ghoul
3. Keene Ahnung
4. Mold Courning
5. Esoteric Chick
6. They Say He Is Evil
7. White Magic/Black Magic [Saint Vitus]
8. Mountain March
9. A Skull Full of Emptiness
 
WALL
(20.12-20.53)
1. Generic
2. A Good Son
3. Beyond the Grasp
4. The Bucket
5. Tears of Goliath
 
DUST
(21.15-22.15)
1. Black Head
2. Psychoactive Breakdown
3. Instant Demon
4. True Born Child
5. In Shining Light
6. Receive the Frequency
7. Be Warned
8. Come Around
9. Dust
 
CALDERA
(22.30-23.22)
1. Lithogenitus
2. Sacrificium
3. Dawn Redwood
4. The IVth Crusade [Bolt Thrower]
 
HEAVY LORD
(23.44-0.30)
Titel unbekannt
 
BEEHOOVER
(1.03-ca. 2.00)
Titel unbekannt
Sonntag, 12. Dezember
 
Mit dem Sonntag durften wir das letzte Türchen in den Tagen von Nürnberg öffnen. Am Morgen habe ich einen letzten Dauerlauf zum Kolosseum an den Dutzendteichen unternommen. Damit blieb ich „Streaker“, einer, der täglich seinen Streifen läuft (ich selbst seit 26. Dezember 2008, also ununterbrochen seit 717 Tagen). Nach der morgendlichen Lagebesprechung im Gasthof Süd verabschiedeten sich die vier Musiker von Wall, Kalle, Micha, Peanut, der Wahlschweizer und ich von den Festen des Doom 2010 in eine lange Winterpause. Besonders einem tat diese Not: Kalle erlitt durch den infernalischen Lärm von Wall einen üblen Hörsturz.
 
Nachwort
 
Drei Tage nach dem Low Frequency Assault meldete sich Kalle und teilte mir mit, daß sein Gehör wieder klar sei. Bis zum Dienstag hatte er noch leichte Pfeiftöne von Wall gehabt. Dem Kunstverein werden wir wohl keine Träne nachweinen. Oder?
 
 
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Doom, Fascination und Gewalt: ((((((Heiliger Vitus)))))), 22. Dezember 2010