33. BERLIN-MARATHON, 24. September 2006
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AUFBAUKÄMPFE
Karbener Halbmarathon, 13.8.06
Bruchköbeler Halbmarathon, 26.8.06
STRECKE ¤ VORBEREITUNG ¤ MARATHON ¤ STATISTIK ¤ BILDER
Und morgen die ganze Welt...
 
 
Central Park? Pustekuchen! Wie ein Apfel auf Zement war Peanuts und mein Traum vom New-York-Marathon zerplatzt. Zur direkten Qualifikation über die Zeitnorm von 3:05 Stunden fehlten mir dreieinhalb Minuten, und das Jedermann-Kontingent über eines der autorisierten Reisebüros war seit anderthalb Jahren ausverkauft. Doch im Herbst wollten wir endlich die große Bühne bekommen. Warum nicht in Deutschland, bei der Hochgeschwindigkeitshatz durch Berlin? Und dabei war Berlin mal ganz anders...
 
Als 1974 eine Randgruppe des SC Charlottenburg auf zwei Runden zwischen Avus und Wannsee im stillen Grunewald einen „Volksmarathon“ mit 286 Teilnehmern austrug, konnte noch niemand ahnen, welche Ausmaße das nach dreißig Jahren annehmen könnte. 1981 - als aus Trimm-Trabern allmählich Läufer wurden - erstmals durch die spektakuläre Westberliner Innenstadt führend, und nach dem Mauerfall 1990 auch noch den Osten der Stadt erobert, ist der Berlin-Marathon über die Jahre nicht nur zum wichtigsten nationalen Laufereignis aufgestiegen, sondern auch der drittgrößte und schnellste Marathon der Welt. Zusammen mit Boston, London, Chicago, New York sowie der Weltmeisterschaft und Olympia, bildet Berlin die neu geschaffene Laufserie World Marathon Majors. Damit ist Berlin ein Monument des Marathonlaufs. Der Preis für eine Startnummer lag 2006 zwischen 55 Euro für die früheste und 95 Euro für die teuerste Meldephase.
 
Haile Gebrselassie, der beste Marathonläufer der Welt, nahm einen neuen Weltrekord ins Visier. Eine unendliche Kette von einer Million Menschen auf den Bordsteinen, 40
 000 Marathonläufer aus 105 Ländern der Erde, ein Heer von Helfern und die vielen Gesichter der Stadt sollten dabei die magische Kulisse bilden. Berlin. Lauffest der Völker. Flach, schnell und unauslöschlich!
 
.:: DIE STRECKE ::.
42 Kilometer im Uhrzeigersinn. Der Start erfolgt westlich vom Brandenburger Tor in der Lunge der Millionenstadt, dem Großen Tiergarten. Auf flachen und ausladenden Asphaltchausseen und nahezu ohne Rhythmusbrechung führt die Strecke durch die Ortsteile Tiergarten und Moabit, dann durch Mitte nach Kreuzberg, weiter über Schöneberg und Friedenau bis nach Schmargendorf, und schließlich über Wilmersdorf und Charlottenburg wieder bis Mitte. Zurück in Tiergarten findet das Rennen nach dem Durchlauf unter der Victoria sein grandioses Finale. Neben den verschiedenen Gesichtern der Stadt werden die Wahrzeichen Siegessäule, Reichstag, Fernsehturm, Kurfürstendamm, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Dom und Unter den Linden gestreift, und nicht weniger als acht Brücken überquert. Dabei herrscht Hochbetrieb am Straßenrand. Eine Million Schlachtenbummler tragen die Läufer ins Ziel. Womit man hierzulande zu dieser Jahreszeit aber immer rechnen muß: Hitze! Es könnte ein heißer Tag werden... Daß die Schleife durch Berlin trotzdem äußerst schnell ist, davon zeugen bislang fünf gebrochene Weltrekorde:
 
1977 - Christa Vahlensieck (Deutschland) 2:34:48
1998 - Ronaldo da Costa (Brasilien) 2:06:05 (erster Mensch über 20 km/h)
1999 - Tegla Loroupe (Kenia) 2:20:43
2001 - Naoko Takahashi (Japan) 2:19:46
2003 - Paul Tergat (Kenia) 2:04:55 (erster Mensch unter 2:05 Std.)
 
.:: DIE VORBEREITUNG ::.
Mangels Trainingsplan mußte ich mich mit den Programmen von Greif aus dem Vorjahr fitmachen. Mit zwei Änderungen: 1. einem zweiten Halbmarathon innerhalb der Vorbereitung; und 2. einer zusätzlichen, sechsten Laufeinheit pro Woche. Das Ziel war, nach 2:59 Stunden die erste Berliner Weiße im Blut zu haben. - Marathona Peanut hatte nach ihrem Einstand in Würzburg endgültig ein Lauf-Problem und übte nach dem Portal My Asics Running für eine Zeit unter 4:15 Stunden. - Unsere Trainingsrouten verliefen auf dem Nidda-Uferweg und im Frankfurter Grüngürtel - von der Quellenstadt Vilbel im Nordosten entlang der Nidda quer durchs Stadtgebiet von Frankfurt bis zur Main-Mündung in Höchst im Südwesten.
An der Nidda (© Vitus)
Das LAUFTAGEBUCH vom 3. Juli bis 24. September:
 
 
1. Wo. (101 km): Nach sieben Jahren Asics habe ich die Schuhmarke gewechselt, laufe nun in New Balance. Gründe gab es einige. Im Unterschied zur Krake in Japan, die im billigen Ausland herstellen läßt, steht das Werk von New Balance im englischen Flimby, wo noch in guter alter Handarbeit produziert wird; NB macht die einzigen Modelle mit paßgenauen Weiten; NB verschmäht großspurige Werbung, und NB gibt´s auch nicht in jeder Laufboutique (wegen dem aufgenähten N und Kunden aus der falschen Ecke wird NB vielfach gemieden); und nicht zuletzt setzt neues Material neue Reize. Für sportliche Schlagzeilen sorgte das Halbfinal-Aus Deutschlands bei der Fußball-WM 2006. Italien zerstörte das Sommermärchen. Endlich waren sie weg, die doppelbeflaggten Autos, Gestalten mit Sombreros und Damen mit Schwarz-Rot-Gelb im Gesicht. Für uns selbst war es trotz sengender Hitze mit Ozon und Pollenflug der beste Einstieg aller Zeiten. Die Spuren der wenig pfleglichen Nebensaison waren ausgeheilt, Organe und Glieder kampfbereit. Sechs Läufe, darunter einer über 31 Kilometer durch einen Wolkenbruch am Sonnabend, waren das Ergebnis. Die Körper gewöhnten sich rasch an die Hitze. Selbst Peanuts, die anfangs sehr unter Atemnot litt. Es erfordert nur Überwindung. Mit all unserer Kraft stürzten wir uns in die neue Aufgabe!
 
2. Wo. (109 km): „Ich bevorzuge deine Schwester, die Nutte.“ Während Italiens Marco Materazzi den Franzosen Zidane zur Weißglut brachte (was deren Finalniederlage bedeutete), war es für den Läufer feuchtheiße Gewitterluft mit totaler Dehydration! Durst macht nicht nur dumm, ohne Flüssigkeitsaufnahme ging einem nach neunzig Minuten auch das Licht aus. Obwohl man rund um die Uhr trank wie ein Gaul, war auch lange nach dem Lauf nichts mit Laufenlassen. Die Dopingpolizei bräuchte für eine Kontrolle viel Geduld... Dazu wurden die Läufersinne unterwegs auch noch von Bier und Gegrilltem bezirzt. Verzicht und Disziplin fielen schwer... Wenngleich ich die Beine nun schon deutlich besser strecken konnte, waren Greifs Vorgaben - wie 10 Kilometer in 45:10 Min. - kaum erfüllbar. Eine bärenstarke Vorstellung lieferte Peanut, die für ihre 30 Kilometer nur 13 Minuten mehr brauchte, als ich für 34 Kilometer. Nach den ersten zweihundert Kilometern stellten sich erste Gebrechen ein: Lendenwirbel, Hüfte, Adduktoren...
 
3. Wo. (111 km): In Greifs Rundschreiben fand sich eine Abhandlung zu dessen These von 1986: „Es ist immer der Geist, der aufgibt, niemals der Körper.“ Die Deutsche Zeitung für Sportmedizin hatte sich dem Thema angenommen und kam nach Meßungen von Muskelkontraktionen zu dem Ergebnis, daß der Athlet durch Willen und Antrieb zusätzliche Muskelkraft abrufen kann. Dieser Studie zufolge müßte Greifs Aussage verifiziert werden in: „Der Kopf gibt immer früher auf als der Körper.“ So die Theorie. Nur haben alle am Ort wo Marathon stattfindet - der Natur - vorbei referiert. Die Meteorologen vermeldeten den heißesten Juli seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Nach zwei schwülheißen Wochen trieb Hoch „Bruno“ die Werte auf 35 Grad und mehr. Und als wäre das nicht schlimm genug, wurden die Lungen von bis zu 200 Mikrogramm Ozon geflutet. Man muß keine Memme sein, aber unter diesen Bedingungen hilft auch die stärkste Motivation nicht. In einer 34 Kilometer langen Hölle durch Staub, Sonnenglut und endlose Felder fragt niemand mehr nach Minuten und Sekunden, wenn man bei lebendigem Leib verbrennt! Peanut äußerte: „Das ist unmenschlich, das ist mörderisch.“
 
4. Wo. (103 km): Sportbetrüger im Maillot Jaune! Endlich wurde einem der Doper das Handwerk gelegt. Nachdem EPO-Armstrong erst Jahre später überführt werden konnte, flog ein anderer Lump aus USA, Testosteron-Landis, noch während der „Tour“ auf! Ami, go home forever! - Heiße Leiber und Wüstenklima auch in unserem Land. 37 Grad im Schatten ließen auf Hessens Straßen spektakulär den Asphalt schmelzen! Das Training glich einem Marsch durch die Sahara. Triefend naße Trikots, die Normalität. Zu den Vorgaben für die 4 x 3000-Meter-Wiederholungsläufe von 4:25 Min. pro Kilometer fehlten mir 15 Sekunden. Auch die Haut war der Sache nicht mehr gewachsen und warf Bläschen. Nach der Anstrengung schoß mir der Schweiß wie Wasserfälle aus den Poren; ich schwitzte die ganze Nacht lang nach. Kein Gedanke an erfrischenden Schlaf. Wir sehnten den Herbst so sehr herbei! Ein Glückserlebnis am Sonnabend: Die Fußballer waren in die neue Saison gestartet. Damit konnten wir an den Hähnen am Niddasportfeld in Vilbel wieder Wasser nachtanken. Ein Fakt, der mich den langen Dauerlauflauf auf 38 Kilometer ausdehnen ließ. Berlin vermeldete: „Das Starterfeld der 40
 000 Läufer ist komplett!
 
5. Wo. (117 km): Ein Wunder! Am Montag war der Sommer verjagt. Temperatursturz um 13 Grad. Endlich frei atmen, frei laufen, freute ich mich. Aber nun wollte der Kopf nicht mehr: Nach den vorangegangen Wochen mit je sechs Trainingseinheiten und vegetarischer Ernährung war ich schlagartig ausgebrannt - vom Alleinsein auf den jahrelang wiederholten Laufpfaden die Nidda rauf und runter. Besonders die mittelschnell zu bestreitenden Dauerläufe um 15 Kilometer fielen mir sehr schwer. Ein leiser Anflug von Hoffnung dann aber in der zweiten Wochenhälfte durch den bestandenen Fremdenlegionslauf über 3 x 4000 Meter und einen Traininingsrekord über 40 Kilometer. Peanut erhöhte ihre Umfänge auf fünf Tage mit insgesamt 80 Kilometern.
 
6. Wo. (110 km): Eine Sensation! Am 12. August hatte das Rostocker Mädel Ulrike Maisch als krasse Außenseiterin die anabolen Diwotschkas aus Osteuropa aufgemischt. Marathongold für Germania bei der Leichtathletik-EM im schwedischen Göteborg. Tags darauf hatten wir unseren eigenen Einsatz...
 
.:: DER 1. AUFBAUKAMPF ::.
 
17. KARBENER STADTLAUF, 13.8.06
(Halbmarathon)
Ringelpiez bei plündernden Horden an der Römerstraße
 
Erst brachte uns die Stadtteilfeuerwehr mit ihrem Sommerfest und bis in die Puppen lärmenden Runzelrockern um den Schlaf... und dann der Öffentliche Nahverkehr mit einem verspäteten Zug in die Wetterau fast um den Start. Das Adrenalin strömte, als wir Karben erreichten. Weiteres Unheil sollte im Umkleideraum des KSV folgen... Zuvor knallte um 9 Uhr in der Klein-Kärber Uhlandstraße der Böller für rund 180 Halbmarathonis. Jene mußten vier Fünf-Kilometer-Runden zurücklegen. Nach dem Start am Rathaus stürzte sich die Strecke zweimal scharf nach rechts hinab. Hinter dem Günter-Reutzel-Sportfeld wurde der Fluß Nidda überquert. Danach ging es über einen Feldweg und durch ein Industriegebiet. Hinter dem Bahnhof Groß-Karben wurde noch mal die Nidda überquert, und nach einem Schwenk in den Breul war der fünfhundert Meter lange Zielberg hinauf zum Rathaus erreicht. Beim Halbmarathon war jener fünfmal zu bewältigen. Milde Temperaturen und kaum Wind schufen gute Bedingungen. Dazu gesellten sich Schaulustige, die sich mit Laufen auskannten und einem sogar die Rundenzahlen entgegenriefen.
 
Mein Vorhaben war es, Karben in 1:27 Std. zu beenden. Dazu trug ich erstmals die leichten Sohlen der „Neuen Balance“ und hohe weiße Kompressionsstrümpfe (Kniestrümpfe, der Sprecher vermeldete bei jeder Zielpassage, sie würden „Wadenkrämpfen vorbeugen“), doch ich verfehlte die eigene Vorgabe. Die mäßigen Siegerzeiten machen es aber verständlich. Zu 65 Höhenmetern kamen Behinderungen durch die Sportwanderer und unaufmerksame Streckenposten. Durch einen Stau im Zielkanal blieb ich 14 Zehntelsekunden über 90 Minuten - hatte aber noch genug Kraft, eine Extrarunde zu drehen, um mein Mädel zur Unterbietung der zwei Stunden zu lotsen. (Peanut hatte ich auf meinem Schlußkilometer überrundet: ein erbärmliches Gefühl, die eigene Freundin so abzuservieren.) Leider ließ sich die verbummelte Zeit nicht mehr aufholen. Unser spontaner Zug scheiterte um 49 Sekunden - verhalf jedoch einem „Üfü“ erstmals unter jener Marke zu bleiben. Sein Dank im Ziel, der Lohn. Und dann gab es auch noch ein „Hallo“ mit einem hochgewachsenen Muskelberg: dem Zehnkampf-Olympiateilnehmer von Barcelona Thorsten Dauth, der in Karben wohnt und den ich im Schlußberg auf der Straße erkannte.
 
Im Nachlauf das eingangs angedeutete Unheil: Langfinger hatten im Umkleideraum 70 Euro aus meiner Jacke geklaut. Und damit war ich noch gut bedient: Dem Dritten wurde gleich die ganze Tasche samt Papieren gestohlen. Eine Katastrophe. Denn tags darauf wollte er nach Japan fliegen! Der Diebstahl wirft Fragen auf. Muß man einem Volkslauf sein Wochenende opfern, sonntags mit den Lerchen aufstehen, auf die Dörfer tingeln - und sich dort beklauen lassen?
 
 
ZAHLEN UND ZEITEN
 
Wetter:
sonnig, 20ºC, leichter Wind
 
Teilnehmer am Start:
450 (HM, 10 km, 3 km, 1 km, 300 m, NW)
Teilnehmer im Ziel: 405
Halbmarathonläufer im Ziel: 169 (M: 140 / W: 29)
 
Männer
1. Frank Stephan (Bad Soden) 1:15:31
2. Jörn Claussen (Dreieich) 1:22:17
3. Fabian Raschke (Kronberg) 1:22:30
22. Kampfläufer Vitus (Frankfurt) 1:30:01 (12. M45, 23. Gesamt)
 
Frauen
1. Christiane Wilken (Hofheim) 1:27:12
2. Lynn Biesheuvel (Königstein) 1:35:22
3. Sylvia Roberts (-) 1:37:19
20. Peanut (Frankfurt) 2:00:49 (8. W40, 135. Gesamt)
 
Ergebnisse

Team Endzeit
7. Wo. (120 km): Getreu der Foster-Regel, wonach auf ein Rennen so viele Tage keine Belastung stattfinden soll, wie es in Meilen lang war - Halbmarathon: 13 Meilen, 13 Tage - war zunächst mal Wiederherstellung angesagt. Die vorgesehenen 17 x 400 Meter habe ich gestrichen und nur die 3 x 3000 „für die ganz Harten“ durchgezogen. Obendrein bin ich über sechs Kilometer Endbeschleunigung zu einem neuen Trainingsrekord über 40 Kilometer in 3:29 Stunden gerannt. Noch was zur Ernährung: Bommerlunderpunk Campino hatte mal die Regel ausgegeben, daß sich nach sechswöchigem Entzug alle vom Alkohol angegriffenen Hirn- und Leberzellen wieder aufrichten. Dementsprechend werde ich sechs Wochen darben - im Hoffen, das Brandenburger Tor nicht als Tote Hose zu durchlaufen! - Dazu erhielten wir am 20. August, 15.45 MESZ eine Einladung von der Reiseagentur „Interair“: „Wegen Storno 5 freie Startkarten für New York 2006 zu vergeben. Vergabe nach Buchungseingang!“ In der früheren Anmeldung gescheitert, hätten wir als Nachrücker doch noch in Amerika einziehen können. Aber Berlin rief schon: die Anmeldebestätigungen trafen ein!
 
8. Wo. (100 km): Die zweite Woche nach dem Halbmarathon in Karben. Zugleich die Woche vor dem Halben in Bruchköbel. Eine Phase der Wiederherstellung und Vorbereitung in einem. Es hieß, die Zügel nicht locker zu lassen, aber auch nicht am Anschlag zu rennen. Trotzdem kam ich nah an die Zeitvorgaben heran. Der Weg stimmte also.
 
.:: DER 2. AUFBAUKAMPF ::.
 
23. BRUCHKÖBELER STADTLAUF, 26.8.06
(Halbmarathon)
Über Stock und Stein in Südosthessen
 
Am letzten Augustwochenende feierte das östlich vor Frankfurt gelegene Bruchköbel sein Altstadtfest. Zwischen Bieranstich, Flohmarkt, Volksradfahren und Musik war in Form des Stadtlaufs auch etwas für die Körperkultur getan. Unsere Teilnahme gestaltete sich indes hürdenreich. Jeweils ein Kilometer lag zwischen Ankunft (Bahnhof), Anmeldung (Rathaus), Umkleide (Dreispitzhalle) und Start (Altstadt-Center). Wir hatten bereits über fünf in den Beinen - der letzte davon unter einem Wolkenbruch - als wir endlich an der Linie standen.
 
14.45 Uhr wurden dreihundert bis auf die Knochen durchnässte Halbmarathonis auf eine Reise ins Ungewisse geschickt. Weder Wettkampfausschreibung noch Netz lieferten Informationen zur Strecke. „Der erste Teil der Halbmarathonstrecke führt über die Ortsteile, der zweite Teil findet im Wald statt.“: Mehr nicht! Frisch auf: Kann es was Spannenderes geben als eine Exkursion ins Blaue?... Aus der Innenstadt ging es zunächst in östliche Richtung. Nach wenigen Metern knickte die Route über die Fechenmühle nach Norden in die Walachei weg. Nach einer Achterbahn um den Henneberg verschwanden die Renner im mannshohen Maisfeld. Waren anfangs einige Sturzbäche auf dem Asphalt zu überspringen, mußte man sich auf dem anschließenden Feldweg zwischen einem Wasserloch oder einem Umweg durch morastigen Acker entscheiden. In Oberissigheim (nach vier Kilometern) hatte der Geländeläufer wieder festen Boden unterm Fuß. Über den Krebsbach ging es durch eine Siedlung weiter nach Niederissigheim, und weiter südwärts zurück nach Bruchköbel. In der Haagstraße angelangt, bogen die 10-Kilometer-Läufer ins Ziel weg, und die Langstreckler starteten ihre zweite Runde, die mit dem Tor zum Bruchköbeler Wald begann. Es war überhaupt kein Wald. Es war eine große unscharfe Wand mit einem schwarzen Loch und einem milchigen Schleier aus Regen und Nebel davor. Fast hatte es was Unheimliches dort hinein zu laufen. Und dann war man drin. Wohin das Auge tastete: Dunkelheit, der Geruch von fauligem Laub und ein schmaler Pfad ins Nichts, eine Kopfsteinpflasterhölle wie in Roubaix. Entweder man hielt sich auf den kleinen, spitzen Steinen - griffig zwar, aber voller Tücken -, oder man quälte sich durch die triefenden Furchen neben den Steinen. Fünf Kilometer nur Schotter, Düsternis, ein verwaister Fliegerhorst - und ein Quartett in Reichweite voraus. Zweihundert Schritte. Doch sosehr ich mich auch bemühte: es wurden nicht weniger. Letztlich lief ich 17 Kilometer allein. Irgendwann endete der verwunschene Regenwald und ein Feldweg lotste an einer Pferdekoppel vorbei. Nach dem kleinen Landidyll ging es zurück ins Schattenreich - mitsamt einem stillen „Hey!“ zwischen mir und Peanut, die sich auf dem Hinweg in der Gegenschneise befand. Zwei Kilometer vor Schluß konnte ich das Quartett doch noch abgefangen. Ein Höhepunkt war der Sturm über die Haagstraße in die Zielgasse mit dem fröhlichen Kirmesvolk unterm Bruchköbeler Wehrturm. Die Uhren stoppten nach 1:29 Stunde. - Für Peanut hatte es wieder nicht zur „unter Zwei“ gereicht. Erneut fehlten Sekunden. Die Hügel, die Rumpelpiste, Hitze und sticker Dunst hatten den Lauf äußerst schwierig gemacht.
 
Auf all die Überraschungen folgte eine starke Verblüffung: Die Ergebnislisten an der Rathaustür spuckten einen 3. Platz in der Altersklasse für den alten Klepper Vitus aus. Damit durften wir eine weitere Stunde in Bruchköbel verbringen. Denn ab 18 Uhr 15 wurden auf dem Volksfest auf dem Freien Platz die Sieger und Platzierten des Stadtlaufs ausgerufen.
 
 
ZAHLEN UND ZEITEN
 
Wetter:
bedeckt mit Regengüßen, 22ºC, Windstille
 
Teilnehmer am Start:
ca. 450 (HM, 10 km, 5 km, Schüler, NW)
Teilnehmer im Ziel: 401
Halbmarathonläufer im Ziel: 151 (M: 134 / W: 17)
 
Männer
1. Daniel Feil (Bruchköbel) 1:16:59
2. Markus Lehr (Lahnau) 1:18:29
3. Jürgen Wagner (Bruchköbel) 1:20:07
14. Kampfläufer Vitus (Frankfurt) 1:29:00 (3. M45, 14. Gesamt)
 
Frauen
1. Carmen Hildebrand (Hanau-Rodenbach) 1:31:22
2. Tina Rudolf (Heldenbergen) 1:35:31
3. Nette Assmus (-) 1:38:03
12. Peanut (Frankfurt) 2:00:52 (5. W40, 123. Gesamt)
Der Kampf in einer BILDERTAFEL... anklicken............
9. Wo. (119 km): Nach zwei Halbmarathons wähnten wir uns gut gerüstet für Berlin. Wir waren uns ziemlich sicher. Meine 2500-Meter-Tempostücke waren 45 Sekunden schneller als noch vor drei Wochen. Das alles Beherrschende dieser Woche war jedoch mehr geistiger als körperlicher Natur. Eine unliebsame Szene bei einem Konzertbesuch drückte mir aufs Gemüt. Daher ein Wink an alle Leidensgefährten: Niemals während einer Marathonvorbereitung an verschiedenen Fronten kämpfen. Alle Kräfte für das EINE bündeln!
 
10. Wo. (111 km): Noch ein heikles Thema: Nahrungsergänzung. Im Graubereich zwischen Lebensmittel, pharmazeutischer Substanz und Dopingliste, soll die Leistung durch eine Extradosis Mineralien und Vitamine gesteigert werden (Magnesium, Calcium, Kalium, Eisen, Zink, Jod, Vitamin B, C, D und E, um einige zu nennen). Ein Mangel kann sich ebenso nachteilig auswirken, wie ein Zuviel. Doch wie ohne ständige Blutkontrolle die rechte Dosierung treffen? In der neunten Woche stolperte mein Herz. Da ich kardiologisch ohne Befund bin, lag eine Wechselwirkung der Substanzen nahe. Es war zu viel Magnesium! Angehäuftes Mg hatte zu einer Funktionsstörung geführt - und ich war heilfroh, daß nach Absatz der Chemikalie alles war wie zuvor. - Am Donnerstag folgte eine zweite Einladung als Nachrücker nach New York zu fliegen. Aber nun fahren wir nach Berlin! Und am Wochenende stand ein alles ausradierender Trainingsrekord über 35 Kilometer in 3:04 Std. mit Endbeschleunigung bis unter 4:40 Min. auf den letzten zehn Kilometern.
 
11. Wo. (91 km): Zwei Wochen vorm Wettkampf tritt die Vorbereitung in die Endphase ein. Damit sich Körper und Geist erholen können, müssen die Umfänge um ein Drittel verringert werden. Tapering (auf den Punkt bringen), nennt man diese Kunst. Dabei geht es nur noch darum, die optimale Verfassung herzustellen und zu halten. Statt täglichem Training hat der Körper plötzlich zwei Ruhetage. Zwei Tage Schonung, zwei Tage schlechtes Gewissen; Tage, an denen man nicht mit Endorphin belohnt wird, an denen kein Dopamin durchs Hirnkästchen schießt. Das war wie auf kalten Entzug gesetzt. Der Körper braucht das!
 
12. Wo. (37 + 42,195 km = Gesamt 1271 km): Das buchstäbliche Sahnehäubchen kriegt der Marathoner zwischen dem siebenten und vierten Tag vorm Rennen. Dann nämlich regiert der Schwede Saltin die Speisekarte. Es setzt Fette und Eiweiße, nur tunlichst keine Kohlenhydrate! Zur Auswahl standen Gemüse oder etwas Obst und ansonsten Milchprodukte, Nüsse, Avocados, Tofu, Fisch, Geflügel und etwas Knäckebrot. Drei Tage lang... bis sich der Magen verkehrt. Nach einer letzten straffen Übung am Mittwoch werden Nudeln, Reis, Kartoffeln und Bananen gespachtelt, bis sich die Balken biegen. Und Trinken muß sein. Nur heller Urin ist guter Urin! Dies tut man, um die Speicher komplett zu leeren und mit der folgenden Kohlenhydratmast überzukompensieren. Durch dieses Verfahren soll der Läufer länger auf schnellen Kohlenhydraten rennen. Man nimmt paar Pfund zu, geht aber mit vollen Tanks an den Start. In der Summe der Vorbereitung hatte ich 1300 Kilometer abgerissen. Das waren sechs Tage und Nächte - oder auch 1300 Stunden Schinderei und Einsamkeit mit der Natur. Peanut hatte es auf 820 Kilometer gebracht. All der Aufwand am Rande: Man redet nicht darüber.
 
.:: DAS RENNEN ::.
 
33. real,- BERLIN-MARATHON, 24. September 2006
Freitag, 22. September
 
Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin... Mit einem sechzig Stunden vorm Start frisch eingesetzten Kieferimplantat, voll banger Erwartung, doch guter Dinge, sind wir am Freitagvormittag in Richtung Hauptstadt aufgebrochen. Heute war Anreise zum Berlin-Marathon - und der Zug in den Osten berstend voll. Trotz einiger Spaßvögel in Notarztkostüm verlief die Fahrt jedoch ruhig. Um 12.19 Uhr rollten wir im gerade fertiggestellten Glaspalast des Lehrter Hauptbahnhofs ein. Noch 45 Stunden bis zum Peng. Ein knapper Vorlauf! Berlin ist riesig, die Wege sind lang, und vor allem die aus den 1930ern stammenden, rolltreppenlosen Zugänge zu den S- und U-Bahnen (wie denen im Bahnof Friedrichstraße) haben es in sich. Wer einen Zentner Kohlen mehrmals vom Keller in den vierten Stock bugsieren mußte, weiß was ich meine... Unser erster Anlaufpunkt war die Startnummernausgabe in den Messehallen am Funkturm. Jene hatten sich in Marathonschmuck gehüllt. Obwohl wir uns nun inmitten eines der größten Sportereignisse Deutschlands und mitten in einem „World Major“ befanden, lief alles locker und entspannt ab. Mit den Helfern des SC Charlottenburg menschelte es geradezu. Dazu ließ sich die Orga auch bei der Zusammenstellung der Starterbeutel nicht lumpen: Neben allen Unterlagen inklusive Startnummer und Werbegeschenken, lagen darin auch ein Paar Laufsocken und ein Naßrasierer der neuen Generation. Ferner trafen wir die Kameraden vom Oberelbe-Marathon, die ihr Rennen mit einem Stand in Berlin bewarben. Am späten Nachmittag war der Einzug in die vor Monaten angemietete Ferienwohnung in Steglitz abgeschlossen. Die Unterkünfte sind zur Marathonzeit schnell weg und Steglitz bot - wenngleich wenig erquickend, eine Göre sprach gar vom „Rentnerkiez Steglitz“ - für Läufer ein gutes Umfeld. Lebensmittel gab es gleich ums Eck, und mit dem Teltowkanal lag eine der schönsten Laufstecken Berlins direkt vor der Haustüre.
 
Sonnabend, 23. September
 
Der Sonnabend stand im Zeichen der Erholung vom Vortag und der aufmerksamen Verfolgung des Wetterberichts. Nach dem Tropenjuli und dem milden August rollte im September ein heißer Altweibersommer übers Land. Dieser Sommer war nicht normal. So heiß war es in Berlin noch nie. Sonntag sollte der wärmste Septembertag seit hundert Jahren werden. Auf Sonne waren wir allerdings eingestellt... Mit einer letzten Energieaufladung am Abend (ich: Polenta, Peanut: Preußenknollen) war das Mögliche getan.
Sonntag, 24. September
 
BERLIN-MARATHONI Um 4.15 Uhr war Wecken. Mit 5 ½ Stunden Schlaf und bis zum Bersten angespannten Nerven machte ich mich ans Frühstück. Peanut und ich saßen getrennt. Es gab „Lance-Schrippen“, Brötchen wie sie Lance Armstrong bevorzugt: mit Erdnußbutter, Banane und Ahornsirup belegt. Halb sieben streckten wir die Nasenspitzen in die Berliner Luft und machten uns per Taxe und S-Bahn ab Rathaus Steglitz in Richtung Unter den Linden. Um sieben war die Aussteigehaltestelle erreicht und wenig später standen wir unterm Brandenburger Tor. Obwohl es jetzt nur noch hundert Minuten bis zum Start waren, verlief alles ohne großes Gedränge. Ein letztesmal Austreten auf einem noch unbefleckten Plumpsklo hinterm Brandenburger Tor? Kein Problem, alles klappte wie am Schnürchen! Mit Bombenwetter schon am Morgen mußte man sich auch in kein schützendes Zelt quetschen, sondern konnte sich auf der Wiese vorm Reichstag umziehen. Um 8.15 Uhr (45 Min. vor Kampfbeginn) hatte ich meine Siebensachen am vorgegebenen Laster abgeliefert. Obwohl nun schon Tausende umherwimmelten, lief alles völlig kontrolliert ab. Zehn Minuten später waren auch Peanuts Klamotten abgeliefert, und wir waren in einem Meer aus Menschen zur gigantischen Startrampe des „17. Juni“ geströmt. Um 8 Uhr 50 trennten sich die Wege: P. bewegte sich zum Block G, ich mich zum B-Block. Auch die vermeintlich letzte Hürde, der Zugang zur großen Volks- und Feststraße, auf der sich bei anderen Ereignissen eine Million Feierwütige tummeln, und auf der im Juli auch das „Sommermärchen“ der WM endete, war keine! Mit einem riesengroßen Schwarm Schmetterlingen im Bauch zählten wir unter den 33 000 Marathonläufern aus 105 Ländern die letzten Minuten bis zum START.
 
Kilometer 0 bis 10:
Tiergarten, Moabit und Mitte
 
Zur festgesetzten neunten Stunde gab „Balins Rejierender“ Wowereit bei stahlblauem Himmel und ewigem Sonnenschein den Marathon frei. Um die gewaltige Heerschlange zu entzerren, wurde sie in drei Kolonnen im Abstand von zwei Minuten auf die 42 Kilometer lange Reise geschickt. Angeführt von Fabelläufer Haile Gebrselassie und seinem Gegner Sammy Korir ging es in breiter Front, in einem Meer aus gelben Ballons und heroischen Tönen, ab. Erst „janz langsam“ - und dann etwas flotter: Nach 42 Sekunden hatte ich die Linie am Kleinen Stern überlaufen, Peanut erlebte den befreienden Moment mit der zweiten Welle vier Minuten darauf. Nach sechshundert Metern auf der Ost-West-Achse war der Große Stern mit der Stele der Siegessäule erreicht. Gleichwohl auch mein Nahziel. Denn ich lief jetzt im direkten Kontakt zum Leitwolf mit dem Schriftzug Pace Sub 3:00 auf mambagrünem Trikot. Nach 2 ½ Kilometern verließ die Strecke den Tiergarten über einen weiten Schwenk in die Marchstraße nach Norden. Weiter ging es auf dem glatten Asphalt von Alt-Moabit, in einem Schub aus leichtem Rückenwind und einem phänomenalen Publikum hin zum fünften Kilometer, den die Drei-Stunden-Gruppe nach 21 Minuten erreichte. Fast hatte ich ein Gefühl der Schwerelosigkeit, so als ob Traum und Wirklichkeit im Kopf ineinander verschwimmen. Nach sechs Kilometern war ich auf die Moltkebrücke und damit der dritten von sieben Flußüberschreitungen transzendentiert. Der Blick fiel auf den Spreebogen mit dem Reichstagsgebäude - eine weite Biege in ein karges, gelecktes Quartier. Aber auch hier tobte ein Sturm der Begeisterung. Eine Million säumte die Strecke - so viele wie Köln Einwohner hat! Hinter der Kronprinzenbrücke wurde dann erstmals eine Stelle passiert, wo früher die Mauer stand. Nun bewegte sich der Marathon auf rauhem Pflaster mit Gleisen und Gattern vorm Ostberliner Unterhaltungstempel Friedrichstadt-Palast. Achtung, Sturzgefahr! Frau Oberem kann ein Lied davon singen. Hier, im Engpaß am Kilometer 8, kam ich erstmals außer Puste. Wobei der Tempomacher - einerseits Dominanz ausübend, andererseits ins Publikum winkend - wenig Einfühlungsvermögen bewies. Den Vogel schoß jedoch ein rasender Kellner ab, der allen davonlief, und dabei noch in Schürze und Handschuhe von einem Serviertablett (!) Bier aus Erding ausschänkte. Egal! Der Osten war nicht nett, die Mittebewohner machten sich rar, und im scharfen Rechtsknick von der Moll- in die Grunerstraße hätte mir eine Eisenstange fast den Bauch aufgeschlitzt!
 
Kilometer 11 bis 20:
Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln
 
In der Grunerstraße sorgten wiederum einige Bauzäune für Alarm im noch immer dichten Läuferfeld. Doch man schlug sich durch, überschritt die einstige Aufmarschstraße der DDR, streifte den Alex mit dem Fernsehturm (an dessem Fuß tote Hose herrschte), kreuzte die Jannowitzbrücke und verließ am Moritzplatz den Osten. Nun führte die direkte Linie in den Arbeiterbezirk SO 36 Kreuzberg. Am berüchtigten Kottbusser Tor, wo jeden 1. Mai Steine fliegen, war heute die 15-Kilometer-Kontrolle des Berlin-Marathons. Für mich zugleich der Fakt, mit 1:03 Std. noch immer absolut im Plan zu liegen. Doch kündigte sich ein erster Schwächemoment an. Im südöstlichsten Streckenzipfel, entlang der Hasenheide, konnte und wollte ich das Tempo nicht mehr mitgehen. Behinderungen an den Wasserstellen und die Hitze hatten zu einer leichten Dehydrierung geführt und eine alte Wunde aufgebrochen. Ruckartig hatte sich der Schmerz in die Hinterseite des rechten Oberschenkels gekrallt. Fortan galt: Alles rein, was reingeht! Das hatte ich zwar von Beginn weg getan, doch nun kippte ich an jedem Erfrischungspunkt einen Becher über den Kopf und zwei in mich hinein - vorrangig Frischwasser geliefert von der Berliner Wasserleitung, aber auch Tee und das mineralische Sportgetränk Basica. Alles, was mir in die Hände kam. Dazu atmete ich jeden Sprühnebel ein, nahm jeden Schwammbottich und jede kalte Brause aus Gartenschläuchen mit. Nach der Kreuzberger Kneipenmeile Gneisenaustraße und der Unterquerung der eisernen Yorckbrücken war Schöneberg erreicht.
 
Kilometer 21 bis 30:
Schöneberg, Steglitz und Zehlendorf
 
„... die Hälfte ist geschafft!“ So stand es auf dem Torbogen über der Grunewaldstraße geschrieben, und mit 1:30 Std. lag ich noch immer gut im Rennen. Trotz drohender Krämpfe fühlte ich mich stark, und das Publikum trug und zelebrierte mich und diesen bittersüßen Schmerz buchstäblich um den Kurs! Ringsum bewegten sich Läufer aus allen Teilen der Welt. Neben viel Rot-Weiß aus Dänemark, besonders Engländer, Franzosen, Italiener, Niederländer, sogar ein Kanadier. Manche der stark eingeschätzten Internationalen, die mir schon enteilt waren, standen nun erschöpft am Straßenrand. Auch das bewirkte - ohne gehäßig zu sein - einen Schub für die Seele. Etwas bescheidener wurde es auf dem Friedenauer Südwestkorso und der Lentzeallee. Dies wiederum war wie ein Durchschnaufen vorm ekstatischen Höhepunkt, der sich unvermittelt vorm Kilometer 28 in Form eines leicht abschüssigen Zickzacks namens Platz am Wilden Eber auftat. Es war ein kleines, aber völlig überschäumendes Wildschwein, das die Kiezler, Trommler und Jubelgören am Kultort in Schmargendorf rausließen. Das geilste Berlingefühl, das man sich überhaupt auch nur vorstellen kann. Bambule am Anschlag, Koks für die Läuferköppe! Vom Nachhall getragen, ging es in einen ruhigen Kontrastpunkt: den langen Hohenzollerndamm um den Kilometer 30 herum. Ein exklusives Vorstadthäuschen hier, ein schniekes Vorstadthäuschen da. Durchbrochen von spätsommerlichem Laubengrün so weit das Auge reichte.
 
Etwa zur gleichen Zeit zerriß Äthiopiens Haile Gebrselassie mit fünf Minuten Vorsprung als Erster das Zielband. Sein Plan, den Weltrekord des Kenianers Paul Tergat zu knacken, scheiterte um 61 Sekunden. Weniger an der Hitze, als vielmehr an der Tatsache, daß er vom 28. Kilometer an allein laufen mußte (Korir hatte nach 26 Kilometern wegen einer Oberschenkelverletzung aufgegeben). Dazu kamen Windböen ab dem 37. Kilometer. Haile über das Husarenstück: „The last 5k hurt“. Seine 2:05:56 Stunden waren die siebtschnellste Zeit in der Geschichte des Marathonlaufs überhaupt. Als strahlender Triumphator durfte „Gaba“ sich über einen Regen von 250
 000 Euro Antritts- und 80 000 Euro Preisgeld freuen.
 
Kilometer 31 bis 40:
Charlottenburg, Schöneberg und Mitte
 
Für die Meute führte die Strecke nach Charlottenburg zum Kurfürstendamm. Auf den Bordsteinen war der Bär los, und mit schwindender Energie ging es vorbei an Kranzler-Eck und Gedächtniskirche zum Einkaufszentrum Europa-Center mit dem rotierenden Stern auf dem Dach. Ausgangs des Ku´damms war ich am Ende. Der Tauentzien und der Wittenbergplatz mit dem Kaufhaus des Westens: rechter Hand stand es - nur wahrgenommen hab ich das nicht mehr. Darauf bewegte sich die Strecke über die Potsdamer Straße. Dort wiederum hatte ich mich in der Beschilderung verpeilt und meinen Traubenzucker zwei Kilometer zu früh genommen. Das hatte Folgen! Der ins Blut schießende Zucker verlieh mir am 37. Kilometer zwar einen fixen Kick - aber mit schnell nachlassender Wirkung! Was nun? Marathon mißt 42,195 Kilometer... Ein Rübezahl aus dem Vogtland überholte mich - mit zünftigem Schlag auf mein Kreuz und einem „Laß dir ma wiedr de Hoare schneidn, harrrharrr“. Dann war er weg und die im Krieg vollständig ausgebombte Mitte wurde durchquert. Der einstige Prachtplatz Potsdamer Platz hatte nach dem Mauerfall eine Reihe neuer Gebäude erhalten, die baukünstlerisch ohne jeden Wert sind. Der Rummel am Rande verdeckte sie, „Bonsai-Manhattan“ war rasch vorbei, und die Route kehrte zurück in den alten Osten. Mild hinauf ging es auf der Gertraudenstraße vorbei an Berlins Wiege Nikolaiviertel, hin zum Werderschen Markt und dem 40. Kilometer. Zwischen Rotem Rathaus, Dom und der Abrißruine des „Palazzo Prozzi“ hatte die „Berliner Morgenpost“ ein Tor aufgebaut. Wer durchkommt, steht in der Zeitung, strahlte es von oben herab. Ein hehrer Ansporn. Denn was kommen mußte, kam...
 
Kilometer 41 bis 42,195:
Mitte und Tiergarten
 
Mit den ersten Metern Unter den Linden stand ich. Endbeschleuniger abgebrannt, Muskeln ausgebrannt, und diese unendlich weite und breite und nicht endende Zielannäherung von eintausendfünfhundert Metern voraus. Wie in einer Hommage an die Tour de France war der letzte Kilometer mit einer „Flamme Rouge“ markiert, einem roten Wimpel über der Strecke. Das Brandenburger Tor kam in Sicht. Aber wie immer ich mich auch anstrengte: Es rückte nicht näher. Zuschauer schrien (aus Begeisterung), ich schie (vor Anstrengung). Weiter ging´s. Mit wackeligen Knien... bis zum Pariser Platz. Und dann thronte es direkt vor mir: das Tor mit der Quadriga und der Siegesgöttin. Aber das war noch nicht das Ziel! Nach dem Lauf durch die mittlere der fünf Toröffnungen waren weitere 300 Meter zu durchstehen. Bei sengender Hitze und flankiert von den prallen Tribünen an der Ost-West-Achse, wo vor drei Stunden alles begann. Unter den Zuschauern war auch unser Freundespaar Kerstin und Kalle, die extra wegen Peanut und mir aus Genthin angerückt waren. Auch Haile war hier. Wie ein scheues Tier hatter er acht Minuten zuvor auf diesen Metern eine kleine Ehrenrunde gedreht. Sein Atem war fast noch zu spüren... Und dann war es auch für mich da - das ZIEL nach 3:08:58 Stunden. Meine bis dahin zweitbeste Zeit und ein innerer Veitstanz im Sommerdunst! Wie alle Läufer wurde ich nach dem Strich vom Sanitätsdienst genau beobachtet: Nur wer eine feuchte Haut hatte, war ausreichend hydriert. Während ich mit Medaille und Umhang dekoriert einen Stand mit Pilsner Made in Berlin erspähte (der erste Gerstensaft seit sechs Wochen, gleich fünf Mollen umsonst!)...
 
... kam´s für Peanut knüppeldick. Denn je später der Tag, desto unbarmherziger die Sonne. 27 Grad im Schatten! Den man vergebens suchte! Stattdessen sah man den nackten Träger einer Pace-Regenbogenfahne, der seine Mitläufer nach dreißig Kilometern ganz und gar nicht friedlich tadelte: „Redet denn hier keiner mit mir?“ Und: „Ist das hier ein Marathon oder eine Trauerveranstaltung? So ein Trauerhaufen!“ Knallchargen gibt´s auch beim Marathonlaufen. Über tausend Läufer kippten aus den Pantinen, der Rettungsdienst war im Dauereinsatz, hunderte mußten ins Krankenhaus, darunter Frauensiegerin Gete Wami. Die gazellenhafte, sehr weibliche Äthiopierin erbrach sich im Ziel mehrmals. Während sich die Lage immer weiter zuspitzte, durchstand Peanut alle Dramen und stieg mit brennenden Achillessehnen erneut zur Heldin auf. Obwohl das persönliche Ziel weit verfehlt war, reichten ihr 4:34 Std. immer noch zu einem Platz im Mittelfeld, nur zwölf Minuten nach Ex-Nationalspieler Thon und weit vor Ex-Herthaner Thom, dem sie zwölf Minuten abnahm. Letzter hatte sich durch eine wochenlange Abstinenz wahrlich professionell vorbereitet!
 
Aus dem gedachten Bierchen mit Haile wurde nichts. Ebenso verfehlten sich Kerstin und Kalle mit uns. Auch mein Mädel und ich hätten uns um ein Haar nicht wiedergefunden. Denn Peanut hatte sich gleich hinterm Zielstrich neben eine Wanne mit Apfelstücken gesetzt. Nie zuvor haben ihr Äpfel so geschmeckt wie nach dem Berlin-Marathon......
 
 
FAZIT
 

Wirkung: Der Berlin-Marathon ist nicht nur ein Marathon. Berlin sprengt alle Dimensionen. Berlin ist zauberisch, Berlin ist Magie und Faszination. An allen Ecken und Enden umweht einen der Atem der Geschichte. Die Stadt hat ein grandioses Publikum und bietet damit auch eine grandiose Ausstrahlung. Durch die über viele Jahre gewachsene Erfahrung war die Organisation vorbildlich, und die Strecke denkwürdig und äußerst schnell allemal. Wenn auch noch Wind und Wetter mitspielen, dann Gute Nacht ihr Rekorde! Für die Materialinteressierten diese Auskunft: Frau war mit Asics GT-2110 unterwegs, Mann mit New Balance 910.
Der Kampf in einer BILDERTAFEL... anklicken............
KULTUR
 
Alle zusammen haben wir uns zu einem gemütlichen Beisammensein in Steglitz getroffen. Selbst am Abend waren es noch zwanzig Grad. In einer wonnig milden Sommernacht haben wir im Garten der Trattoria „Toscana“ gesessen. Wir haben gegessen, Grappa und einige Mollen „Weiße grün“ getrunken, und gequatscht - bevorzugt über den unter die Haut gegangenen Tag mit diesem unauslöschlich ins Gedächtnis gegrabenen Ereignis. Nur der kleine, schmale Mann aus Addis Abeba fehlte. Doch der wollte sich auf der Siegesfeier mit einem Roten entschleunigen.
 
Montag bis Freitag, 25 bis 29. September
 
Neben einer Dampferpartie über den Wannsee, einem Ausflug nach Potsdam sowie einer Spreefahrt, haben wir uns in der Woche von Berlin auch unter Randgruppen rumgetrieben:
...... Gride und Lahar
 
Zum besonderen Clou wurde allerdings ein Rundgang über das Reichssportfeld mit einer Führung durch den Bauch des riesigen Olympiastadions. Ziemlich auf den Tag genau vor 70 Jahren, hatten sich am Nachmittag des 9. August 1936 auf der Deutschen Kampfbahn die 56 Läufer versammelt, die den Olympischen Marathon bestritten. Neben der Feuerschale ehrte man die Olympioniken auf einer steinernen Wand am Hauptkampffeld. Dort prangt auch der Name von Kitei Son, der damals in 2:29:19 Stunden für Japan den Sieg errang.
 
 
Zum Schluß Dankesworte
Peanut (für die Liebe und das Mitziehen im letzten Vierteljahr)
Kalle und Kerstin (fürs Kommen und Mitfiebern)
Ausrichter SCC Running Events und seinen Helfern
Die Laufverrückten, die mich aus dem Netz kennen, die mich angesprochen haben, deren Namen ich aber nicht alle kenne (für alle Ratschläge und das Rieseninteresse)
Das Volksfest auf den Bordsteinen
 
 

Kampfläufer Vitus, 3. Oktober 2006
 
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: sonnig, 16 bis 25ºC, schwacher, phasenweise böiger Wind, 40 bis 70 % Luftfeuchtigkeit
Zuschauer: ca. 1
 000 000
 
Gesamtsummen
(Läufer, Sportwanderer, Handradfaher, Rollstuhlfahrer, Kufenroller)
Gemeldet:
48
 009 aus 105 Nationen
Am Start: 39
 223
Im Ziel: 36
 705
 
Marathonläufer
Gemeldet:
39
 466 (M: 31 796 / W: 7670)
Am Start: 32
 479 (M: 26 174 / W: 6305)
Im Ziel: 30
 190 (M: 24 103 / W: 6087)
 
Männer
1. Haile Gebrselassie (Äthiopien) 2:05:56
2. Gudisa Shentema (Äthiopien) 2:10:43
3. Kurao Umeki (Japan) 2:13:43
4. Terefe Yae (Äthiopien) 2:15:05
5. Ahmed Ezzobayry (Frankreich) 2:15:29
6. Driss El Himer (Frankreich) 2:16:44
 
Frauen
1. Gete Wami (Äthiopien) 2:21:34
2. Salina Kosgei (Kenia) 2:23:22
3. Monica Drybulska (Polen) 2:30:12
4. Asha Gigi (Äthiopien) 2:32:32
5. Marcia Narlock (Brasilien) 2:35:28
6. Melanie Kraus (Deutschland) 2:35:37
 
Kampfläufer Vitus
Startnummer:
22032
Nation: Deutschland
Zeit: 3:08:58
Platz:
1407 von 30
 190 Gesamt
Platz: 1360 von 24
 103 bei den Männern
Platz:
171 von 4159 in Klasse M45
Zwischenzeiten
05 km: 0:21:17 (21:17)
10 km: 0:42:23 (21:05)
15 km: 1:03:33 (21:10)
20 km: 1:25:25 (21:52)
25 km: 1:47:45 (22:19)
30 km: 2:11:09 (23:24)
35 km: 2:34:18 (23:09)
40 km: 2:58:46 (24:27)
Halb 1: 1:30:20
Halb 2: 1:38:38
Geschwindigkeit: 13,40 km/h
Zeit pro km: 4:28 min
 
Peanut
Startnummer:
F6303
Nation: Deutschland
Zeit: 4:34:24
Platz: 20
 468 von 30 190 Gesamt
Platz: 3006 von 6087 bei den Frauen
Platz: 706 von 1396 in Klasse W40
Zwischenzeiten
05 km: 0:30:35 (30:35)
10 km: 1:01:49 (31:13)
15 km: 1:32:56 (31:07)
20 km: 2:05:00 (32:03)
25 km: 2:38:17 (33:17)
30 km: 3:12:15 (33:58)
35 km: 3:45:30 (33:15)
40 km: 4:20:10 (34:39)
Halb 1: 2:12:26
Halb 2: 2:21:57
Geschwindigkeit: 9,23 km/h
Zeit pro km: 6:30
 
Medizinische Bilanz
1744 Personen wurden an der Strecke vom Rettungsdienst behandelt, davon 1233 im Ziel.
103 Personen mußten ins Krankenhaus gebracht werden.
Drei Personen wurden notärztlich versorgt, eine reanimiert.
 
Ergebnisse

Berlin-Marathon