8. OBERELBE-MARATHON, 8. Mai 2005
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AUFBAUKÄMPFE
Frankfurter City-Halbmarathon, 6.3.05
Bonn-Marathon, 10.4.05
STRECKE ¤ VORBEREITUNG ¤ MARATHON ¤ STATISTIK ¤ BILDER
Westwind - Ein Sturm zog auf
 
 
Für Achim
 
 
Mein erster Marathon nach genauen Weisungen, Bonn 2005, endete katastrophal und mit einer Verletzung. Je eher die schlechten Erinnerungen mit einem neuen Ergebnis ausgemerzt werden, umso besser ist es. Aber einen zweite Chance im Marathon gibt es eigentlich nicht... Für Bonn hatte ich mich ein Vierteljahr lang vorbereitet. Damit war die Kondition vorhanden. Allerdings konnte der neue Versuch nicht am Wohnsitz in Westdeutschland steigen. Hier waren die Frühjahrsmarathons heillos ausgebucht. Doch im Osten stand mir die Welt offen. Ein Anruf in der Dresdner Geschäftsstelle, einer im bewährten Quartier, ein paar Änderungen im Kalender, und am Tag vier nach der Blamage in Bonn war der Start beim Lauf von der Sächsischen Schweiz nach Dresden in Sack und Tüten. - - Seit seiner Premiere 1998 läuft der ehemalige Königstein-Dresden-Marathon wie geschmiert. Nach 123 Läufern bei der Erstaustragung waren diesmal 3278 dabei. Sie kamen aus Deutschland, England, Österreich, Polen, Schweden, Dänemark, der Schweiz, Tschechoslowakei, Belgien, Frankreich, der Niederlande, Griechenland, der Ukraine, Weißrußland, Rußland, China, Neuseeland und Amerika. 1005 Läufer nahmen die 42,2 Kilometer lange Strecke in Angriff, 874 davon kamen in Dresden an. Um die Attraktivität zu steigern, setzen die Macher auf neue Konzepte, eine Prämie für den Ersten auf halber Strecke und die Erweiterung um Rahmenwettkämpfe. Dazu pumpte der Verkehrsverbund Oberelbe wieder Scheine in die Kassen. Alles andere als lieblich gab sich unterdessen Petrus: Der zweite Sonntag im Mai 2005 sollte zu einem Sturmtag werden!
 
.:: DIE STRECKE ::.
Der Marathon verläuft auf Deutschlands reizvollstem Fernradweg: dem Elberadweg. Und er beginnt auf dessem schönsten Stück: dem zum Teil zweihundertfünfzig Meter tiefen Sandsteintal der Sächsischen Schweiz. Vom kleinen Städtchen Königstein geht es auf dem südlichen Elbufer vorbei an den Schluchten und Tälern, Hochflächen und steil aufragenden Felsnadeln der Sächsischen Schweiz. Auf halber Strecke bekommt man es mit dem groben Pflaster von Pirna zu tun. Nach einer Runde durch die Altstadt von Pirna führt der Weg zurück auf den Elberadweg. Durch die sanften Auen um Heidenau und vorbei am Dresdner Elbhang mit seinen Villen und Schlössern wird die Landeshauptstadt erreicht. Über die Elbwiesen gelangen die Läufer in den Kessel von „Elbflorenz“ und zum Stadioneinlauf auf der traditionsreichen Kampfbahn im Ostragehege. Zu Beginn müssen ein paar kleinere Wellen überwunden werden, die nicht zu unterschätzen sind. Danach geht es aber fast dreißig Kilometer flach dahin. Kleiner Malus: Der Wind kann von vorn wehen... Den Streckenrekord hält seit 2001 Stanislaw Cembrzynski-Polen mit 2:28:20 Stunden.
 
Virtuelle Führung
...... GPSies
 
.:: DIE VORBEREITUNG ::.
Für den BONN-Marathon bin ich mit DLV-Übungsleiter Peter Greif neue Wege gegangen. Mit dessen Trainingsplänen wurde die Vorbereitung professioneller, härter und abwechslungsreicher. Greif läßt nicht stumpf Kilometer schrubben, er gibt auch Empfehlungen zur Ernährung - Nebenwirkungen inklusive! Erstmals kamen Substanzen wie L-Carnitin, Spirulina, Guarana, Proteinkonzentrat, Apfelessig und Vitamin B zur Anwendung. In Kombination mit dem erprobten Magnesium- und Mineralstoffkomplex ging der Schuß nach hinten los. Auf Bonn folgten eine Woche Wundenlecken, eine Woche Neuaufbau und zwei Wochen aktive Erholung.
 
Der 14. Februar bis 8. Mai zusammengefaßt:
 
1. Wo. (112 km): Mit dem Greif-Marathon-Joker-Plan begann die Vorbereitungsperiode II, die direkte Wettkampfvorbereitung und zugleich die Zeit des umfangreichsten und härtesten Trainings (der „Joker“ war auf Bonn gesetzt). Mit einem 15-Kilometer-Tempodauerlauf ging es gleich zackig los. Greif räumte ein, es sei „schlimmer als in der Fremdenlegion“. Wie wahr, wie wahr... 93-106 Kilometer waren angeordnet - ich machte 112. Und noch etwas: Bei Greif ist Atmen mehr als nur Luftholen. So soll durch eine Neue Atemtechnik (NAT), die Tiefenatmung, die Sauerstoffaufnahme im Blut erhöht werden. Vom Pneumothorax-Invaliden 2001 - die Doktoren hatten mich schon abgeschrieben - zum Powerbreather 2005!
 
2. Wo. (118 km): Schnee, Stürme, Eisplatten und ein schmerzender Meniskus. Nach der Nettigkeit von 3 x 4000 Meter-Wiederholungsläufen in der Vorwoche liebkoste mich der Übungsleiter nun mit 4 x 2500 Meter. Wohin sollte das alles führen? Will Greif einen Sprinter aus mir machen? Mit moralischer Unterstützung meines Laufkameraden Jockel steigerte ich die Kerneinheit von 35 auf 40 Kilometer. Und - um Himmelswillen! - auch die Endbeschleunigung auf den letzten drei wurde erfüllt. Greif wollte 93 bis 106 Kilometer - ich rannte 118.
 
3. Wo. (103 km): Einem Verwöhnprogramm für die ganz Harten (3 x 3000 Meter in 12:21 Min.) und 17 x 400 Meter am Stück, folgte die erste Formüberprüfung (Klick auf das Veranstaltungssymbol öffnet den Bericht):
 
.:: DER 1. AUFBAUKAMPF ::.
 
3. FRANKFURTER CITY-HALBMARATHON, 6.3.05
4. Wo. (120 km): Nach dem Höhenflug im Halbmarathon mußte ich im Beruf mit irdischen Vor-Gesetzten fertig werden. Es gibt so viel Wahnsinn auf der Welt, so viel pure Zeitverschwendung. Wenigstens half mir Frau Holle aus ihrem Reich über den Wolken mit Winterwetter. Und Peter Greif tröstete mit einem Lächeln und schnellen 6 x 1000 Meter in 3:51 Min. pro Kilometer (Ich mußte in Schwung kommen!). Sonnabend dankte ich mit 37 Solokilometern, wovon die letzten neun mit Endbeschleunigung waren. Damit war der Wochenplan um 23 Kilometer übererfüllt.
 
5. Wo. (120 km): Mit Vorbereitungsperiode III begann die Endphase der Vorbereitung auf Bonn. Fortan wurde Gewicht gemacht. Nachdem Stimulanztropfen schon länger tabu waren, herrschte nun absolute Abstinenz! Neben den obligaten Kohlenhydraten und Proteinen wurde die Energie aus Sellerie, Kohlrabi, Möhren, Salat und anderem Grünzeug bezogen. Neben dem Oral-Turinabol des Volksläufers Frubiase, nahm ich die Wunderalge Spirulina und den Fettkitzler L-Carnitin ein. Am Wochenbeginn standen die 17 verteufelten Tempoläufe über 400 Meter an. Doch in der Wochenmitte kam der für März vorausgesagte Durchbruch! Die Vorgabe von 4 x 2500 Meter in 10:08 Min. war ebenso machbar wie der 35-Kilometer-Dauerlauf mit 12 Kilometer geistesstärkender Endbeschleunigung bis unter 4:42 Min./Kilometer. Beflügelt von meiner radelnden Freundin hängte ich ein Kilometerchen dran. Laufzeit für 36 Kilometer: 2:48 Stunden!
 
6. Wo. (130 km): Gipfelwoche und Formkrise! Beim montäglichen Holger/Olga-Meier-Zerbrösel-Lauf (Maximaltest über 10 Kilometer) streikte die Stoppuhr, und auf der großen Runde gab es Unstimmigkeiten mit Peanuts Fahrradtacho. Damit waren zwei wichtige Einheiten ins Blaue gelaufen und ein leichter Schaden für die Psyche entstanden. Mit dem einsetzenden Frühling begann auch wieder der Kampf um den Weg. Die Laufstrecken wurden von bellenden Vierbeinern, fetten Nilpferden und Blinden auf Drahteseln verstellt verstellt. Hier galt: Wer zuerst haut, siegt! Ferner winselte der ganze Knochenapparat um Gnade. Einmal niedergelassen, kam ich vor Schmerzen in Nacken, Kreuz, Hüfte, Knie und Zehen kaum noch hoch.
 
7. Wo. (115 km): Die Vorbereitungsphase auf Bonn lag in den letzten Zügem. Nach zweiwöchiger Medikalisierung mit Mineralstoffen, Magnesium, L-Carnitin, der Alge Spirulina, B- und anderen Vitaminen, war ich zu einer Apotheke auf zwei Beinen transformiert. Doch die erhoffte weitere Entwicklung blieb aus, im Gegenteil: Ich war platt wie eine Plinse. Nachdem ich auch noch ein befremdliches Kribbeln unterm Fuß spürte, setzte ich sämtliche Substanzen ab. Der richtungsweisende 15-km-Supertest war die letzte geknallte Einheit, und der letzte 35-Kilometer-Lauf stand ganz im Zeichen von Erhalten und Erholen.
 
8. Wo. (88 km): Die Woche begann mit einer Schrecksekunde: Am Montag mußte ich Radlern ausweichen und trat mit vollem Karacho in eine Kuhle. Es folgte eine Nacht mit starken Schienbeinschmerzen und quälender Ungewissheit. Doch der Schmerz verschwand wie er kam - - bis zum Marathon von Bonn (Klick aufs Veranstaltungsbanner öffnet den Laufbericht) ......
 
.:: DER 2. AUFBAUKAMPF ::.
 
5. RHEIN-ENERGIE-MARATHON BONN, 10.4.05
9. Wo. (61 km): Dem vernichtenden Ausgang von Bonn durch muskuläre Probleme folgten zwei Tage Kölsch-Koma, Wundenlecken und Anmeldung zu einem neuen Angriff. Der OBERELBE-MARATHON sollte den Schandfleck vom Rhein löschen. - Greif verordnete für die erste Woche nach Bonn vier ruhige Dauerläufe, den längsten mit 15 Kilometer. Ich absolvierte sie im Rahmen des Doom-Metal-Festivals „Doom Shall Rise“ im schwäbischen Hügelland. Training im Morgenrot, kaum Bier in vier Tagen, dazu eine gute Massage bei Reha-Med Göppingen: Diese Einstellung sollte alles zum Motiv sagen!
 
10. Wo. (114 km): Nachdem sich der als Muskelverhärtung abgetane Schmerz im Schenkel nicht „weglief“ - bei unter 5:30 Min. pro Kilometer machte der Muskel dicht -, brauchte ich Beistand von oben. Einer zwanzigminütigen Unterredung mit Greif folgte der Besuch bei einem Frankfurter Sportarzt. Dessen Befund lautete „Muskelspannungsstörung durch Dysbalancen“. Die Konsequenzen:
 
1. Startverbot für den Marathon
2. zwei Monate keine intensiven Reize
3. Termine in der Physiotherapie
4. Diclofenac gegen die Schmerzen
 
Am Freitagvormittag (16 Tage vorm Marathon) erfolgte die erste Muskelheilungsaktion, Freitagabend ein weiterer Wiederherstellungslauf mit ganz behutsamer Steigerung... und nach zehn Kilometern öffnete sich der Muskel. Einen Spalt nur, aber immerhin.Am Sonnabend begann mit Geleitschutz meiner Frau der alte Rhythmus: 35 Kilometer extensiv. Sogar mit vorsichtiger Endbeschleunigung.
 
11. Wo. (101 km): Mit dem Entzug von Diclofenac kam der herbe Rückschlag. Trotz Massage alle zwei Tage, trotz Elektrotherapie, Ultraschall und Rotlicht (alles vom Ex-Eintracht-Frankfurt-Doc Bär ausgeführt): Sobald sich die Geschwindigkeit an die 4:15 Min. pro Kilometer näherte (spätestens nach zwei Kilometern), verkrampfte der Oberschenkel. Der letzte Belastungstest verlief miserabel: Ich verfehlte das Ziel 15 Kilometer in 1:03 Std. um sechs Minuten, und bestritt die Schlußwochen nach Rücksprache mit dem Übungsleiter „selbstgesteuert“ mit ruhigen Dauerläufen.
 
12. Wo. (36 km): An die planmäßigen Tempogefühlsläufe im Marathontempo war überhaupt nicht zu denken. Stattdessen folgte aktive Erholung, um Herz und Kreislauf in Gang zu halten und nicht zuzunehmen. Ein Hohn der neue Rekord von 1262 Kilometern in den vergangenen zwölf Wochen, darunter der Frankfurter Halbmarathon und der Bonn-Marathon. War das alles für die Katz?
 
.:: DAS RENNEN ::.
 
8. OBERELBE-MARATHON, 8. Mai 2005
Freitag, den 6. Mai
 
... hatte ich mich von Hessen auf Achse fünfhundert Kilometer Richtung Osten gemacht. Allein, denn Peanut hing beruflich in Frankfurt fest und stieß erst am Montag nach dem Marathon dazu. Nach fünf Stunden hatte ich mich zum „Vater“ des Marathons im bewährten Anwesen am Lockwitzbach durchgeschlagen, war fortan unter Meinesgleichen, Dresdnern und sonst nichts! Die Einquartierung war mit Einbruch der Dunkelheit abgeschlossen; ich hatte alles Notwendige beschafft. Auch was die Ernährung anging, war ich zu den Wurzeln zurückgekehrt. Statt Aufputschmitteln, Vitaminen und Nahrungsergänzungsmitteln kam Hausmannskost auf den Teller, mit besten Zutaten aus der Region: nach altem Rezept gebackenes Malfa-Kraftma-Brot und Gartenbauerzeugnisse aus aus dem Spreewald, Kartoffeln und Leinöl, Senfgurken und Sauerkraut. Mit einem Sieg über die „Schachter“ von Aue ließ mich Dynamo selig ins Bett fallen. Damit war das Ziel - der Klassenverbleib - erreicht!!
 
Sonnabend, 7. Mai
 
Um fünf war ich munter, wollte rasch in die Stadt, um die Startunterlagen abzuholen. Nach einem Handschlag mit den Strippenziehern, der Entrichtung von 34 Euro Startbeitrag, und etwas Andenkenkonsum auf der Marathonmesse, war das World Trade Center schnell erledigt. Nichts wie zurück ins Quartier, Beine hochlegen, Kopf frei kriegen und vor allem Kraft tanken - mit Nudeln aus Riesa, Tomaten und Paprika aus Vorpommern, Ketchup aus Bautzen, und Pilzen, Sauerkraut und Leinöl aus dem Brandenburger Land. Zu trinken gab es Meißner Orangensaft, Apfelsaft aus dem Lockwitzgrund und Wasser aus dem Müglitztal. Und als Gutenachtgeschichte Zeilen von Gina Wild......
 
Sonntag, 8. Mai
 
4 Uhr 44 klingelte der Wecker. Außer dem munter dahinplätschernden Waldbach war es still. Die gewöhnlich laut zwitschernden Vögel schwiegen. Ein Blick aus dem Fenster verriet den Grund. Am achten Mai 2005 sollten sich die Teilnehmer am Oberelbe-Marathon mit dem schlechtesten Wetter in seiner Geschichte konfrontiert sehen. Eisiger Regen, peitschender Wind und Temperaturen wie am Polarkreis. Radio PSR meldete für die Kammlagen des Osterzgebirges Schnee: Die Eisheiligen kamen eine Woche zu früh. Mein Frühstück bestand aus einer Großen Semmel, die so schmeckte wie zu sozialistischen Zeiten, dazu Honig aus Meißen und Kamillentee. Im Morgengrauen fuhr Werner mich im Volkswagen nach Pirna. Dort stieg ich in den Bummelzug „Bohemica“ um, und um acht war Königstein erreicht. Wie ein Gemälde von Caspar David Friedrich erschien die unter Tau, dunklem Gewölk und mystisch wallenden Nebeln liegende Felsenmeer der Sächsischen Schweiz. Es regnete es, es war kalt, und noch anderthalb Stunden bis zum Start... Werner empfahl zum Abschied zum Warmhalten einen Kirchengang. Stattdessen fand ich hinter der Startwiese im Sanitärgebäude der Kreissportanlage einen Wetterschutz. Weitere dreißig Läufer machten dieselbe Entdeckung und erwärmten sich mit mir im Waschraum des Klosetts. Wie bei der Verpflegung setzte ich auch beim Trikot auf deutsche Wertarbeit, und trug frisch geliefertes Skinfit. Die Zeit verstrich. 9.20 Uhr ging ich raus, um meinen Rucksack am Kleiderlaster abzugeben. In dem Moment prasselte ein kleiner Wolkenbruch danieder, eine „Floge“, wie der Sachse sagt. Bis auf die Haut durchnässt und durchgefroren schob ich mich in die vorderste Reihe.
Bilderstreifen © Vitus
Punkt 9.35 Uhr fiel der START-Schuß. In Schlamm, mit Gegenwind und Blick auf die vernebelte Festung Königstein trappelte das Feld davon. Eine Taktik hatte ich nicht. Ich war verletzt, hatte etwas Geld eingesteckt, und hätte mich bei auftretenden Schmerzen in eine der Schänken an der Elbe verkrümelt. Drei Dutzend waren gleich davongestürmt. Keine Zeit zu überlegen. Noch auf dem ersten Kilometer erspähte ich den entscheidenden Mann: schwarzes Trikot, weiße Weste und rote Runen auf dem Rücken, die das Ziel 3:00 anzeigten - Tempomacher Dander von den Dresdner Trollen. Ich wußte, was zu tun war. Danders Tempo mußte ich mitgehen soweit die Knochen hielten! Und es ging klasse. Auch die Begleitung war dies. Lief doch niemand anders als die zweimalige Oberelbesiegerin Semjonowa an meiner Seite. Und noch größer war die Verblüffung, als die Ukrainerin nach der Steigung im Kaff Strand wegplatzte. Eine zwanzigköpfige Gruppe formierte sich, darunter die spätere Zweitplatzierte Marx, die schon 2002 lange mit mir lief. Den 5. Kilometer erreichten wir nach 21 Minuten: genau im Plan. Eigentlich hätte spätestens hier der kaputte Muskel kollabieren müssen. Die Wochen zuvor war es immer so gewesen. Aber nichts geschah. Ich war derart voll Adrenalin, daß ich nicht mal die Zähne eines Pitbulls gemerkt hätte. Rechts zog die Kette aus eindrucksvollen Felsen, tiefen Klammen und Gründen mit mystischen Namen wie „Einsiedler“, „Kohlengraben“, „Leopoldsnase“, „Mägdegrund“, „Backofen“ und „Folgen“ vorbei. Die himmelhohe „Bastei“ vor Augen ging es mit Volldampf an der Elbe lang nach Rathen hinein. Bei „Ettrich´s Hotel“ wartete die erste Wasserstelle, ein zweiter Bahnübergang und ein kleiner Tourmalet von zweihundert Meter Länge. Nach Oberrathen folgten die vier Kamelbuckel gegenüber des Felsmassivs „Weiße Brüche“. Das viermalige Rauf und Runter von je dreihundert Metern wurde unter dem Schutz hoher Baumkronen genommen, und nach einer letzten Rampe ausgangs des Wehlener Ortsteils Pötzscha waren die Hügel bezwungen. Den zehnten Kilometer passierte unsere Seilschaft „Sub 3:00“ nach 41 Minuten. Gemäß Dander „exakt wie ein Schweizer Uhrwerk“. Das konnte ich nicht bestätigen, da meine Uhr durch einen fremden Ellenbogen gestoppt wurde.
Nach Obervogelgesang wehte der Wind schon stärker ins Gesicht. Rechts tönte ein Nebelhorn: Der Schaufelraddampfer „Wehlen“ schipperte mit zweihundert Angehörigen und Mäzenen auf der Elbe herum und gab uns Unterstützung. Allmählich meldeten sich auch die Beine. Obendrein rieb ich meinen großen Zeh blutig. Mit Kilometer 17 war Pirna erreicht. Die Strecke bog nach links weg, unterquerte den Bahndamm und führte über eine kleine Rampe hinauf, um gleich noch mal scharf nach links wegzuknicken. In dieser Passage stauchte es mich derart zusammen, daß mir kurz schwarz vor Augen wurde. Ich verlor etwas Raum, konnte aber durch Räubern über den Plattenweg wieder aufschließen. Die Strecke führte nun in einer anderthalb Kilometer langen Schleife über robustes Kopfsteinpflaster durch Pirna. Jubelmädel, Fanfaren, Trommelschläge und ein Sprecher hallten über den Markt. Und kurz darauf wieder Stille und Einsamkeit durch die frühe Stunde und das unwirtliche Wetter. Der Weg führte wieder ans Wasser und ich mußte mich nun schon langmachen, um am Troll zu bleiben. Denn eins war klar: ein verlorener Halt hat fatale Folgen! Und dann war es soweit: Bei der Wasseraufnahme am Bootshaus Pirna kam ich aus dem Tritt und verlor den Anschluß.
Mit einem Halbmarathon von 1:29 Stunden war ich noch im Bereich der 2:59 - aber auch mit den Kräften am Ende. Und das bei immer stärker werdendem Gegenwind. Linderung brachte der kurzzeitige Zusammenschluß mit einem Leidensgefährten. Zwei Mädel sächselten: „Loof eenfach dein Schdiefl rundor.“ Sonst war da keine Erbauung weit und breit im scheußlichen Wetter. Auf dem Folgekilometer verlief die Strecke auf einem nach der Sintflut 2002 runderneuerten Abschnitt. An der Landungsstelle Heidenau brach mein Begleiter ein. Ich zog allein weiter, und bekam selbst von zwei schwarzgedressten „Blackwater Valley Runners“ aus England und einem schlaksigen Triathleten aus Dresden die Hacken gezeigt. Nach Querung der ebenfalls neu errichteten Brücke über die Müglitz kam ein Feldrain mit der Ortstafel Dresden. Zschieren war erreicht. Inzwischen peitschte der Wind völlig entfesselt von vorn. Mit Mühe rettete ich mich zum 25. Kilometer (Gasthof Zschieren), hinter dem schützende Zäune und Anfeuerungen aus dem Biergarten „Zur Elbinsel“ warteten. An der Pillnitzer Fähre holte mich ein weiterer Läufer ein. Dies war Kilometer 30. Zeiten interessierten mich schon lange nicht mehr, einzig etwas Windschatten. Also ran an den Mann. Als Tandem stolperten wir durch zwei geschotterte Baustellenbereiche auf dem Kleinzschachwitzer Ufer und der Österreicher Straße: auch dies zähe Andenken an die Verwüstung vor zwei Jahren. Bis zum Laubegaster Ufer schleppte mich der Kamerad vom SV Mihla mit durch. Und dann war ich wieder allein...
Die Verpflegungsstelle Laubegast war von Jubelmädel von Dynamo flankiert. Aber so leicht kommt man nicht zum Ziel in Dresden. Auf der Elbwiese vor Tolkewitz versperrte windgepeitschtes Plasteabsperrband den Weg. Übers Gras ausweichend schleppte ich mich zum nächsten Windfang, dem Biergarten „Trollgarten“. Und es sollte noch schlimmer kommen... Vorbei an den Dresdner Bootshäusern war bei Kilometer 35 der Schillergarten erreicht. Es ging durch eine Senke aus Sand und losen Pflastersteinen, und die liebevoll „Blaues Wunder“ genannte Loschwitzer Brücke wurde unterquert.“Hinterm Pfeiler lauert der Mann mit dem Hammer“, hatte am Start jemand gewitzelt. Aus Witz wurde größte Not. Rechts auf dem gewöhnlich stillen Wasser britzelte weiße Gischt auf wilden, tiefschwarzen Wellen. Links bogen sich die Halme der Elbwiese ins Nichts. Die Prinzenaue. Eine weite, offene Ebene. Eine Augenweide. Und ein Fegefeuer aus Wind! Denn der blies aus der falschen Richtung! Aus Westen! Gegenwind! Eine Sturmwalze mit der Kraft eines Schmiedehammers von vorn auf den entkräfteten Körper! Ich schrie meine Wut mit ausgestreckten Armen nach oben. Der Schrei verhallte im Surm. Geduckt ging es vorwärts. Meterweise. Nach dreieinhalbtausend Metern purer Naturgewalt war der Johannstädter Fährgarten erreicht: „Zur Mobilisierung der letzten Kräfte“ wurde hier, vier Kilometer vorm Ende, Bier gereicht. Am Horizont lag nun die Altstadt. Doch nicht zu früh gefreut. Denn unter der Albert- und Carolabrücke war Granitpflaster. Und dann - am 40. Kilometer - ein Hinweis vom Streckenposten (leise geraunt nur): „Eine Zahl: 56. Und: zwei Frauen voraus.“ Totale Entgeisterung: Nur 56 waren vor mir! Und der Blick auf die Uhr versprach eine Zeit unter 3:20 Stunden...
Diese Zeichen mobilisierten die letzte Kraft. Die finalen 2415 Meter waren eine Hatz auf Anschlag. Beginnend auf dem Altstadtufer mit der hohen Brühlschen Terrasse links, den Landeplätzen der Dampferflotte rechts - und keinem Blick für die sandsteinernen Herrlichkeiten voraus. Stattdessen über alte Granitplatten hinauf zur Augustusbrücke... über den Schloßplatz... vorbei am Italienischen Dörfchen... und der Semperoper. Nun war das Landtagsgebäude erreicht. Mit ihm ein neuer Abschnitt. Der Elberadweg war frisch verlegt und führte auf roter Erde über die neue Terrasse durch den ehemaligen Packhof fast bis ins Ziel. Unterm Erlweinspeicher konnte ich noch zwei der Schwarzwasserrenner aus England lang machen. Gefolgt von einem weiteren Zuruf eines Kampfrichters: „Noch sechshundert Meter!“ Und die können lang sein! Die Marienbrücke wurde unterquert und es öffnete sich das Steyer-Stadion. Hinein durchs dicht belagerte Marathontor - - und rauf auf die Zielrunde mit Gänsehaut im ursprünglichsten Sinne. Erst unter dem dröhnenden Pathos von Rammsteins „Ich will!“. Und dann stand in der Kurve vor der Südtribüne eine unversehene Unterstützung: Mein Papa war extra für seinen in den Westen geflohenen „Großen“ ins Stadion gekommen. 03:14:03 zeigte die ZIEL-Uhr an - war aber kurz davor stehen geblieben. Die vom Transponder gesendete Zeit betrug 3:16:01 Stunden brutto. Das war der 52. Platz unter 1005 Marathonläufern. Die zweimalige Oberelbe-Siegerin Semjonowa lief fünf Minuten nach mir über den Tartan. Und Ultra-Spezialist Kawecki war als Erster mit 2:38 Stunden geschlagene sechs Minuten über dem Streckenrekord geblieben!
 
Im Innenraum dann die Umarmung mit Papa... Ferner weilte hoher Besuch im Stadion: Olympiasieger Dieter Baumann hatte sich angekündigt und war als Schirmherr gekommen. Die Polen Kawecki und Sztejter setzten die Tradition der Sieger aus Osteuropa fort - und sorgten für einen Skandal, indem sie nicht zur Ehrung erschienen. Die vom Sprecher übermittelten Neuigkeiten glichen einer Kriegsberichterstattung: Neben Regen, Graupel und Orkangestürm wurden unterwegs auch zwei Windhosen beobachtet. Zur Untermalung wurde Dresden mit Hagel in der Größe von Stachelbeeren bombardiert. Eine Woche vor Pfingsten schneite es wie im tiefsten Winter. Völlig unterkühlt, wie verwirrt, und unter heftig einsetzenden Muskelschmerzen hat mein Vater mich im Auto heimgefahren. Um drei war die Laube am Lockwitzbach erreicht. Kurz darauf lag ich im warmen Wasser der Badewanne, der Dampf von Koniferen waberte durchs Zimmer. Nie zuvor hatte ich einen solch tiefen Seelenfrieden ganz mit mir allein. Das zur Schlußfeier angepeilte Vereinslokal des BSV Lockwitzgrund, der „Elfmeter“, war leider weg Muttertag geschlossen. Damit mußte ich das erste Bier nach vier Monaten allein trinken. Das geschah in der guten Schänke „Gewürzmühle“. Schwarzbier gab´s dort auch......
FAZIT
 
Organisation: An der Elbe hatten sich die Dinge dynamisch weiterentwickelt. Infolge des Hochwassers vor drei Jahren waren neue Sektoren entstanden. Damit war die Strecke auch etwas flüssiger zu laufen. Wie gewohnt: das erste Drittel durch Berge, Täler, Wälder, Felsen und Klamme - der Mittelteil durch himmlische Stille - die letzten Meter entlang der barocken Kleids von Dresden. Und immer die großen Herzen der Sachsen als Bringer der einzigartigen Ausstrahlung. Doch Achtung, Achtung, wenn der Wind sich dreht! Dennoch: Der Oberelbe 2005 war für mich der Lauf mit der nachhaltigsten Wirkung und meine bisherige Sternstunde in sechs Jahren Marathon. Für die am Material Interessierten: Ich lief mit dem Schuh Asics Gel DS Racer VI und in Kleidung von Skinfit.
 
Ironie des Schicksals
...... Die zur gleichen Zeit ausgetragene Zweitligapartie LR Ahlen - Rot-Weiß Oberhausen wurde eine Viertelstunde unterbrochen. Grund: Hagelschauer.
...... Statistisch ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß der Wind aus der Hauptwindrichtung West weht. Damit wäre eine entgegengesetzte Streckenführung mit 42 Kilometer Rückenwind besser. Aber eine Wiese in der Sächsischen Schweiz ist als Zielort nicht zu vermarkten...
...... Fünf Tage nach dem Marathon bin ich mit meinem Mädel die Rennstrecke noch mal abgeradelt. Es hatte sich einiges verändert: Im Anstieg in Strand (km 4) war der Asphalt vollständig aufgerissen; die Baustellen auf dem Kleinzschachwitzer Ufer und der Österreicher Straße (km 30) waren frisch asphaltiert; anstelle von Hagelschauern lachte uns die Sonne; und statt Sturmböen von vorn pustete der Wind von Süden - aus der Tschechei kommend - als Rückenwind in Laufrichtung!
 
Widmung
Den Oberelbe-Marathon 2005 schenke ich meinem Papa.
 
 

Kampfläufer Vitus, 29. Mai 2005
Der Kampf in einer BILDERTAFEL... anklicken............
 
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: viele Wolken, Regen, Graupel und Hagel bei 4ºC, dazu Westwind mit Sturmböen
 
Gesamtteilnehmer
(Marathon, Halbmarathon, 1/4 Marathon, 3,8 km, Nord. Wandern)
Am Start:
3278
Im Ziel: 2753 (M: 1918 / W: 835)
 
Marathonläufer
Am Start:
1005 (M: 848 / W: 157)
Im Ziel: 874 (M: 732 / W: 142)
 
Männer
1. Artur Kawecki (Polen) 2:38:08
2. Slawomir Sztejter (Polen) 2:38:10
3. Andrej Dutow (Rußland) 2:38:21
4. Matthias Weis (Deutschland) 2:49:06
5. Gerald Just (Deutschland) 2:49:06
6. Wladimir Bukalo (Ukraine) 2:50:22
 
Frauen
1. Ewa Fliegert (Polen) 3:01:12
2. Christin Marx (Deutschland) 3:07:11
3. Tanja Semjonowa (Deutschland) 3:20:52
4. Heike Hänsel (Deutschland) 3:24:12
5. Annett Völlmar (Deutschland) 3:26:22
6. Andrea Goth (Deutschland) 3:28:43
 
Kampfläufer Vitus
Startnummer: 4643
Nation: Deutschland
Zeit: 3:16:01
Platz:
54 von 874 Gesamt
Platz: 52 von 732 bei den Männern
Platz:
14 in Klasse M40
 
Ergebnisse

Baer-Service