LANDESMEISTERSCHAFT EINZELZEITFAHREN SACHSEN-ANHALT UND SACHSEN
Sülzetal-Bahrendorf, 6. Mai 2023
Prolog
 
Nie im Leben hätte ich an ein weiteres Radrennen geglaubt. Vieles sprach nämlich dagegen. Nach der Landesmeisterschaft im Bergfahren vor acht Monaten hatte ich das Rad an den Nagel gehängt und wieder die Laufschuhe rausgeholt. Es folgten zu viele Partys, zu viele verbotene Getränke. Dann das Problem mit der Rennlizenz: Kein Arzt war bereit, mir auf dem Antragsformular des Deutschen Radfahrerbundes „Sporttauglichkeit“ zu bestätigen. Ende April hatte ich mit meiner Frau in Dresden aber auch Dinge rund um unsere zweite Wohnung zu regeln. Die alte Umgebung entfachte in mir neuen Hunger auf Radsport. Zudem lief mir die Zeit davon: Immer mehr Jüngere stiegen in meine Altersklasse auf. Die inzwischen dritte Saison in der Masters 4 schien definitiv die allerletzte Chance auf Podiumsplätze zu bieten... Nach Absolvierung eines Belastungs-EKGs zu 135 Euro plus 50 Euro Eil-Zustellung, erhielt ich auf den letzten Drücker eine Lizenz für 2023. Ich konnte es selbst kaum fassen!
.:: DIE STRECKE ::.
Start und Ziel des Zeitfahrens waren am Ortsausgang von Bahrendorf. Von dort ging es nahezu durchgehend flach und kerzengeradeaus in südlicher Richtung durch die Äcker der Magdeburger Börde nach Borne. Nach viereinhalb Kilometern kam am Ortseingang von Borne eine Wendeschleife. Dann ging es wieder zurück nach Bahrendorf mit einer kniffligen Kehrtwende an der Ortsgrenze. Eben wie ein Brett war das Gelände. Doch die Landstraße war offen für den Wind und hatte einige Zieher, die weh taten. Bis zum Ziel in Bahrendorf standen achtzehn Kilometer mit vierzig Höhenmetern an.
.:: DIE VORBEREITUNG ::.
Nachdem ich von November bis zum Frankfurter Halbmarathon Mitte März fast nur gelaufen war, hatte ich den zigsten Neuanfang im Radsport gewagt. Fürs Laufen war ich zu athletisch und damit zu schwer geworden, hatte acht Kilo mehr als zu besten Marathonzeiten, und kam davon auch nicht mehr runter. Im aktuellen Jahr hatte ich achthundert Lauf- und dreieinhalbtausend Radkilomter gemacht.
 
Als Trainingsbeispiel die vorletzte Woche vorm Rennen, vom 24. bis 30. April:
 
Mo.: 57 Kilometer mit dem Mountainbike auf dem Elberadweg
Di.: 11 km Mountainbike und 62 km mit dem Rennrad im Erzgebirge
Mi.: DSC-Cup auf der Rennbahn Heidenau: 30 Rd. Scratch + 120 Rd. Punktefahren (insg. 82 km)
Do.: 40 Kilometer mit dem Mountainbike auf dem Elberadweg
Fr.: 109 km im Erzgebirge mit 1500 Höhenmeter
Sa.: 6 km Traben an der Elbe
So.: 126 km im Erzgebirge: Dresden-Zinnwald-Dubi (CS) und zurück (2000 Höhenmeter)
.:: DAS RENNEN ::.
Um meinen Lizenzantrag schnellstmöglich durchzukriegen, war ich zwei Wochen vorm Rennen in der Geschäftsstelle meines Dresdner SCs und hatte den Antrag dort persönlich auf Papier abgegeben. Sachbearbeiter Steffen Lorke hatte mich gefragt, ob ich ihm eventuell noch etwas aus dem nahen Rollenraum hinaustragen könnte. Gefragt, getan... Zufällig hingen im Rollenraum zwischen einem Gewirr an Fahrradteilen und Laufrädern auch zwei verwaiste Zeitfahrmaschinen: eine von Specialized und eine von Ridley. Letztere war wie für mich gemacht. Zwei Tage vorm Rennen nahm ich zusammen mit dem Abteilungsleiter Gottschlag die letzten Einstellungen vor. Jens Kunath aus der Trainingsgruppe montierte zum 50er Blatt noch ein 12er und 13er Ritzel, damit stand die Maschine. Gefahren war ich sie bis dahin aber noch nicht. Dies geschah erst am Renntag auf der Landstraße zwischen Altenweddingen, Bahrendorf und Stemmern. Zuvor mußten noch die Shimano-Pedale gegens eigene Look-System getauscht und der Garmin mit einem Klebestreifen am Vorbau fixiert werden... Nichtsdestotrotz hatte der alte Trainerfuchs „Decko“ Deckert mir beim Bahnrennen am Mittwoch von einem energieraubenden Doppelstart bei den Titelkämpfen im Zeitfahren und anderntags auf der Straße abgeraten: „Für die achtzehn Kilometer würde ich nicht drei Stunden über die Autobahn nach Bahrendorf fahren.“ Nach Deckos Meinung wäre alle Konzentration aufs Straßenrennen besser gewesen. Am Sonnabendvormittag traf der Tross des Dresdner SC mit drei Bussen in Sachsen-Anhalt ein...
Bei kühlem Wind und grauen Wolken wartete auf uns die seit Jahren genutzte Neun-Kilometer-Pendelstrecke zwischen Bahrendorf und Borne mit der Wende nach viereinhalb Kilometern. Technisch anspruchsvoll waren nur die beiden Kehrtwenden, ansonsten war es ein Vollgaskurs. Vom Siegerpodest des Zeitfahrens von 2022 war niemand dabei. Der Pfälzer John war nicht angereist, Müller und Rübling fehlten wegen Erkrankung und Verletzung. Der Leipziger Großegger, vor einem Jahr Vierter, hingegen schon. Der START erfolgte wiederum im Minutentakt. 12.59 Uhr war meiner, davor ging der Frankfurter Kopp, danach der Dresdner Schwarz ins Rennen. Kopp schien derart „im Tunnel“, daß er noch nicht einmal meinen hessischen Landsmanngruß vernahm. Gewohnt entspannt gaben sich unterdes Picardellicsfahrer Schwarz sowie Herr Großegger, die beide natürlich kaum trainiert hatten... Und dann lagen meine Unterarme eng aneinander in den Auflegern eines Zeitfahrlenkers, berührte mein Helm den Vorbau, genoß ich den donnernden Klang des Scheibenrades und das Surren der 19-Millimeter-Reifen unter mir... Von Anfang an hatte ich den vor mir Gestarteten als kleinen Punkt im Visier. Am Ende der ersten Geraden und nach der Wendeschleife in Borne war der Rückstand schon um die Hälfte reduziert - und der Abstand zu den hinter mir gestarteten Schwarz und Großegger auf Sicht gleich geblieben. Auf der nachfolgenden zweiten Geraden zurück nach Bahrendorf blies eine stramme Brise von vorn. Am Ortseingang war Kopp abgehängt. So ging es auf die dritte Viereinhalb-Kilometer-Gerade nach Borne - auf der außer großer Einsamkeit nichts geschah. Allerdings hatte sich Schwarz gefährlich angenähert. Auf der Hälfte der Schlußgerade, nach etwa vierzehn Kilometern, fing er mich ab. Die Führung wechselte mehrmals - doch am Ende rollte Schwarz vor mir ins ZIEL und gewann Silber. Für mich selbst blieb nach einer ordentlichen Leistung von knapp 39 Stundenkilometern nur die Enttäuschung mit 49 Sekunden Rückstand auf Großegger und Rang vier. Zu einer bösen Erkenntnis kam es anderntags beim Straßenrennen in Klettwitz. Dort erfuhr ich vom Sieger Jens Matzel, daß er Großegger nach der Hälfte des Rennens aufgefahren hatte - worauf der sofort an dessen Hinterrad gegangen war und die restlichen neun Kilometer auch dort blieb. „Ich habe mit Blick durch die Beine die ganze Zeit Grossi hinter mir gesehen, aber ich konnte nichts dagegen machen“, sagte Matzel... Damit war mir mit hoher Wahrscheinlichkeit Bronze gestohlen worden. Nicht jede „Stunde der Wahrheit“ ist eine Stunde der Wahrheit... Dopingkontrollen wurden nicht durchgeführt.
Finale
 
Einen zweiten Platz bei den Masters 3 staubte unser Jens Kunath ab, mit dem ich im geräumigen Neunsitzer-Ford von Teilauto die zweieinhalbstündige Autobahnfahrt von Dresden nach Bahrendorf und ebenso lange Tour zurück unternommen hatte. Wir hatten uns einiges zu erzählen... Fünf Uhr nachmittags kehrten wir ins Dresdner Ostragehege zurück. Zwölf Stunden später klingelte mein Wecker zur nächsten Landesmeisterschaft auf der Straße in Klettwitz...
 
 
Vitus, 9. Mai 2023
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: überwiegend bewölkt, 14ºC, schwache Brise aus Westnordwest (17 km/h)
Typ: Einzelzeitfahren
Länge: 18 km
 
Meldungen: 199
Im Ziel: 157 (Elite: 6, U23: 1, Masters 2: 7, Masters 3: 6, Masters 4: 8, U19: 14, U17: 19, U15: 15, U13:10, U11: 8, Weibliche Klassen: 46
 
Masters 4 / Landesmeisterschaft Sachsen-Anhalt/Sachsen
Meldungen:
9
Am Start:
8
Im Ziel: 8
1. Jens Matzel (RFC Markkleeberg) 26:09
2. Henry Schwarz (Picardellics Velo Team Dresden) 26:56
3. Marco Großegger (SC DHfK Leipzig) 27:10
4. Mario Voland (Dresdner SC 1898) 27:59
5. Andreas Kluge (Chemnitzer PSV) 28:26
6. Hans-Peter Grünig (Harzer RSC Wernigerode) 29:00
 
Ergebnisse
Rad-Net