34. FRANKFURT-MARATHON, 25. Oktober 2015
STRECKE ¤ VORBEREITUNG ¤ MARATHON ¤ STATISTIK
Marathon-Manie in Mainhattan Vol. X: Herzgewitter
 
 
Schluß gemacht mit Marathon hatte ich schon vor vier Jahren. Ein Muskelriß setzte den Dolchstoß. Kurz daruf ging´s steil bergab... Als letzte lange Strecke standen die 50 Kilometer von Rodgau im Januar. Es folgte wieder stumpfes Dahinaltern auf dem Dorf... Denn nach meiner Stadtflucht mit Frau P. anno 2012 war es zu einem Paradox gekommen: Im Schatten von Frankfurt lebten wir zwar fortan in einer geradezu unwirklichen Stille und Unberührtheit, deren Eintönigkeit und Langeweile auf Dauer jedoch lähmt. Was tun auf dem Dorf fern der Heimat? Sich auf dem jährlichen Höhepunkt, der Brennesselkerb, webgallern? Auf dem Anglerfest? Oder beim Kartoffelfest im Kuhdorf nebenan? Sich zum zigsten Mal in der Dorfschänke oder dem einzigen Biergarten weit und breit zurußen? Die Tage zwischen Kleingeistern, Vereinsmeiern und Familientum waren ein Friedhof. Dazu wurden wir von unseren Vermietern bedroht, die ihr wahres, skrupelloses Gesicht zeigten und das Haus verkaufen wollten - äußerst aggressiv und notfalls auch an den Bürgermeister und dessen Flüchtlinge... Darüber sind wir fast verzweifelt. Mit einem Rechtsstreit nahm das Unheil seinen Lauf. Am Ende des Sommers war mein Herz verkehrt. Was vor mehr als zwanzig Jahren schon mal war, kam wieder wie Gespenster der Vergangenheit. Läufe übers kahle Feld oder die geringste Steigung schnürten mir die Luft genauso ab, wie der Anblick von Menschen und die Annäherung an bestimmte Orte. Die ganze Welt... ich hatte A-n-g-s-t. Dutzende Male drohte meine Brust zu zerspringen. Zu allem Übel knickte Peanut auf einer Treppe komplett um, verletzte sich die Bänder im Sprunggelenk, und fiel sehr lange aus. Endstation Wetterau? Die Summe aller Plagen schien uns zu zerquetschen...
 
Der 16. September leitete ein Aufmucken ein. Ein Duft von feuchtem Laub und reiner, klarer Luft war ins Haus geströmt. Die Herbstboten. Marathonluft! Es waren Vorsehung, eine günstige Kalender-Konstellation (durch die Austragung am dritten Oktoberwochenende kam es zu keiner Kollision mit den Doom-Festivals), und eine innere Entscheidung: Nach einem ganz üblen Alptraumstreifen über ein halbes Jahr lang (streng genommen war ich schon tot, ein Marathon so weit weg wie der Pluto), und einer weiteren verheerenden Nacht, begann ich für Frankfurt zu trainieren. Wollte noch einmal dort sein, wo 1999 alles anfing, wo 2011 nach 2:54 Stunden meine letzte Rennschlacht endete, und wo ich immer im Herbst glücklich war. Mit der Rückkehr wurde der eigene Nimbus zerkratzt. Aber allein, daß ich mich noch mal stellte, während so viele andere längst abgetaucht sind (wo sind der unfassbare Herr Kah, die hochbegabte Haimanot, Hungerhaken Rettig, all die Trainingsweltmeister von Spiridon?), war eine ungeheure Aufgabe für mich.
 
Sport wurde in der Hessenmetropole natürlich auch geboten. Die großen Namen fehlten. Doch der gebürtige Hamburger Arne Gabius wollte den vom Dresdner Jörg Peter gehaltenen, nationalen Uralt-Rekord (2:08:47 Std.) knacken. „Ich orientiere mich im Bereich von 2:07:20 Stunden“, sagte der 34jährige vollmundig. Deutscher Meister wird er sowieso; und vielleicht konnte er sogar den Frankfurt-Marathon gewinnen... Als eine unter 1900 Staffeln gingen „Ehemalige Deutsche Marathonmeister“ ins Rennen. Sie bestand aus Carsten Eich (Meister 1999), Herbert Steffny (1985), Claudia Dreher (1998) und Kurt Stenzel (1993). Eich und Dreher kannte ich von Messeständen, Steffny war unser Betreuer beim New York Marathon 2008, und Kurt mein Übungsleiter bei Spiridon von 2010 bis 1013... Weiterhin bemerkenswert war die Tatsache, daß Deutschlands ältester Stadtmarathon bei seiner 34. Austragung erstmals ohne Sponsor im Veranstaltungsnamen auftrat! Dafür spülte der Leichtathletikverband Geld ins Familienunternehmen Schindler: Nach 14 Jahren kehrten die Titelkämpfe an den Main zurürck. Und: Das „Event“ war längst nicht ausgebucht. Bis drei Wochen vorm Start konnte man sich für 89 Euro anmelden, die Nachmeldung kostete 99 Piepen.
 
.:: DIE STRECKE ::.
Nach vielen Änderungen war der Kurs diesmal derselbe wie im Vorjahr. Er führte über breite Hauptverkehrsstraßen und war mit lediglich 28 Höhenmetern äußerst flach. Die ersten Kilometer verliefen vom Messegelände durchs Bankenviertel, dann ging es durch die südlich des Mains gelegenen Wohngebiete von Sachsenhausen, Niederrad und Schwanheim in den westlichen Stadtteil Höchst, wo im Jahr 1981 die Geschichte des Marathons begann. Nach der langen Mainzer Landstraße von Nied durch Griesheim, folgten das neue Europaviertel und eine weitere Runde durch die Innenstadt. Insgesamt passierten die Läufer viermal den Opernplatz, zweimal ging es über die Hauptwache. Mit dem Messeturm vor Augen, war die Zielarena Festhalle dann nicht mehr fern. - Wilson Kipsang stellte 2011 mit 2:03:42 Stunden den Streckenrekord auf. Die vier Sekunden zum damaligen Weltrekord verlor der Kenianer auf dem feuchten Pflaster der Freßgass´. Zum versprochenen Neuangriff im Folgejahr kam es nicht. Kipsang kam nie wieder an den Main...
 
.:: DIE VORBEREITUNG ::.
Mit täglichen langsamen Dauerläufen hatte ich mich über die Jahre notdürftig aufrechterhalten. Die dreißig Pfund überm früheren Wettkampfgewicht taten nicht weiter weh. Nur die Organkraft und Beine eines Hundertfünfzehnjährigen machten mir Sorge. Aber der Körper erinnerte sich... Sechs Wochen vorm Marathon begann ich wieder ein asketisches Leben. In der Folgewoche stieß ich erstmals nach neun Monaten zur 30-Kilometer-Marke vor. Doch selbst der kleinste Hügel und jede Beschleunigung brachten mich ins Straucheln. Mir fehlte jeder Glaube. Jegliches Vertrauen hatte sich verabschiedet. Hatte ich mich in eine plötzliche Anwandlung verrannt? Oder ging tatsächlich noch ein Marathon? Nach den ersten Fortschritten drohte acht Tage vorm Rennen eine Infektion alles wieder zu zerstören. Über Nacht kam es zu rheumaartigen Schmerzen im Rücken, in den Hüftgelenken und zu einer Blockade des Wirbels überm Hintern. Am Ende stand aber das Gute an einem Marathon-Training: Man fühlt sich insgesamt einfach besser. In anderthalb Monaten verlor ich rund zwölf Pfund (von 82 auf 76 Kilo). Ans alte Kampfgewicht kam ich allerdings nicht mehr ran, ganz zu schweigen von der alten Rennform. Dafür bedürfte es einer radikalen Umstellung des ganzen Lebens. Aber nur noch Laufen und keine Vergnügen: Wer will das schon? Mit wundem Leib, zerkratzter Seele und sechs Wochen echter Vorbereitung konnte das Ziel also nur „heil ankommen“ lauten.
 
Die letzten zwölf Wochen vom 3. August bis 25. Oktober:
 
01. Wo.: 044 km
02. Wo.: 051 km
03. Wo.: 050 km
04. Wo.: 056 km
05. Wo.: 046 km
06. Wo.: 055 km
07. Wo.: 067 km
08. Wo.: 107 km
09. Wo.: 118 km
10. Wo.: 108 km
11. Wo.: 100 km
12. Wo.:
050 km
Gesamt: 852 km
 
.:: DAS RENNEN ::.
 
34. FRANKFURT-MARATHON, 25. Oktober 2015
Freitag, 23. Oktober
 
Dieses Kribbeln im Bauch: Ich habe es vermisst, es war schon zu weit weg... Die Via Mobile, jenen 800 Meter langen Durchgang vom Torhausbau an der S-Bahnstation Messe zur Messehalle 1, bin ich vor 16 Jahren zum ersten Mal gelaufen. Vor vier Jahren war es letztmalig. Beide Male kribbelte es unsagbar. 1999, weil es mein erster Marathon war. 2011, weil ich mich in der Marathonform meines Lebens befand. 2015 hatte ich auf des Erwachen einer alten Liebe gehofft. Vergebens. Ich fühlte nichts mehr. Die Abholung der Startunterlagen in Frankfurts Marathontempel glich einer lästigen Pflicht. Dummerweise mußte man diesjahr auch noch doppelt Schlangestehen: Erst zur Ausgabe der Startnummern an der linken Stirnseite der Halle 1. Dann noch mal zum Empfang des Kleiderbeutels mit den Gönnerbeigaben auf der rechten Seite. Dazwischen lag der Spießrutenlauf durch den Budenzauber umsatzgeiler Händler und Aussteller. Blickfang war eine Wand mit der Überschrift WE ARE MARATHONERS und einer losen Auflistung aller Teilnehmer. Einschließlich Hin- und Rückfahrt mit der S6 war die Aktion binnen zwei Stunden für mich erledigt.
Messeturm und Festhalle
Sonnabend, 24. Oktober
 
Der Morgen vorm Rennen begann chaotisch. Wegen Bauarbeiten am Stellwerk in Friedberg, kamen ausgerechnet am Marathontag zwischen Friedberg und Karben Busse zum Einsatz. Doch der Fahrplan sollte erst am Vorabend im Netz erscheinen... Dafür kam Freude bei der Sichtung des Starterbeutels auf. Die Organisatoren ließen sich erneut nicht lumpen und beglückten alle Teilnehmer mit einer Blechschachtel für Rasierer und Klingen im Retrostil (mit alten Patentskizzen von Gillette), sowie einem Rabattheft im Wert von 300 Euro zum Besuch kultureller Einrichtungen in Frankfurt.
Das Startgerüst am Hammering Man
Sonntag, 25. Oktober
 
FRANKFURT-MARATHON! In der Nacht rückten die kleinen Zeiger der Uhren von der 3 auf die 2 zurück. Sprich: Der Sommer wurde vom Winter abgelöst. Dies war ein Vorgang mit Symbolkraft... Nach einem Wettertest und einem leichten Frühstück hatte ich mich halb acht auf den Weg zu meinem zehnten Frankfurt-Start gemacht. Den Ersatzverkehr ab Niederwöllstadt erwischte ich mit Glück: der Bus fuhr früher als geplant. Halb neun war die Messe Frankfurt erreicht, und eine Stunde später hatte ich die Rennkluft an und die Wechselklamotten am vorgesehenen Stand abgeliefert. Meine Füße zierten heute die Schuhe der Sieger: brandneue Adidas Adios Boost. Doch mit dem selbstgesteckten Zeitziel von 3 Stunden 44 war der gewohnte Platz im ersten Startblock aufgegeben. Ich hatte mich freiwillig ins Mittelfeld degradiert, und lief aus dem dritten Block (Stadt Frankfurt) an. Damit muß man erst mal fertig werden! Zehn Minuten vorm Schuß war ich unter den knapp 15
 000 Läufern verschwunden - in wackliger Verfassung. Aber das mußte die Welt nicht wissen...
 
Um zehn wurde der START freigegeben. Etliche hundert Meter von der Linie entfernt, versickerte das Signal im allgemeinen Getöse. Nur die sich langsam in Bewegung setzende, ungeheure Masse machte klar, daß es ernst wurde. Padam - - - padam - - - padam. Ich fühlte mich gut. Doch je näher die Masse der Linie kam, desto mehr verlor mein Herz den Takt ... bis sich das Startgerüst wie ein Tor zur Hölle aus dem Dunst schälte. Padam - - padam - - padam. Mit Überschreitung der Zeitmatten schlug die Angst mit brachialer Wucht zu. Padampadampadam. Links und rechts Absperrgitter. Auf den Bordsteinen eine endlose Kette an Augenpaaren. Tausende vor mir. Tausende dahinter. Und kein Weg hier raus. Auch nicht unter der besten Tarnung. Meter um Meter wuchs die Scham und die Schmach über den Verlust und den Fall in die Bedeutungslosigkeit. Ausgerechnet der Sport, den ich mit am besten beherrsche, war für immer verloren. Nach einem DEATHMARCH von der Ebert-Anlage über die Mainzer Landstraße und die Taunusanlage durch die Wolkenkratzer der Innenstadt, waren die blauen Türme der Deutschen Bank passiert. Oh, diese abnormal schnelle Herzfrequenz ... Rechts weg in die Westendstraße lag der Notausgang. Das Gewitter im Leib: Ich hatte überhaupt keine Kontrolle darüber, und es verzog sich erst nach einer schieren Ewigkeit in der entmenschten Niedenau. Padampadampadam ... Padam - - padam - - padam. Drei Kilometer durch Frankfurt: Es ist gerade noch mal gutgegangen. Bei meiner Rückkehr in die Wetterau lief noch die Fernsehübertragung. Den Rest des Tages habe ich mit niemandem mehr geredet und auch niemanden gesehen.
 
Den Marathon gewann Sisay Lemma aus Äthiopien in 2:06:26 Std. aus einem Trio heraus vor den Kenianern Rutto und Lagat. Auch bei den Frauen dominierte Äthiopien: Gulume Tollesa Chala siegte in einem Fight bis zum Schluß vor der zeitgleichen Deinknesh Tefela in 2:23:12 Stunden. Arne Gabius machte seine Ankündigung wahr und brach den deutschen Marathon-Rekord. Gabius bewältigte die 42,195 Kilometer in 2:08:33 Std. und war damit 14 Sekunden schneller als Jörg Peter 1988 in Tokio. Damit sicherte er sich auch als bislang einziger Deutscher das Ticket für Olympia 2016 in Rio. - Am Rande hatte eine Flaschenwerferin eine Läuferin schwer verletzt. Die Angreiferin warf eine gefüllte Glasflasche gezielt in eine Gruppe und traf die Frau in die Rippen.
 
Für mich war die Rückkehr nach Frankfurt ein Abbild der augenblicklichen Außenwelt - das fehlende Umfeld, die falsche Umgebung - es konnte nur in einem TRAUMA enden. WENN ANGST DAS ADRENALIN VERDRÄNGT, IST DIE ZEIT REIF FÜR VERÄNDERUNG!
 
 
Vitus, 27. Oktober 2015, Bilder: © Frankfurt-Marathon und Vitus
 
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: viele Wolken, 10 bis 14ºC, kaum Wind
Zuschauer: ca. 400
 000
 
Gesamtteilnehmer
(Marathon, Staffeln, Minimarathon)
Gemeldet: 25
 547
Im Ziel: 19
 319
 
Marathonläufer
Gemeldet:
14
 565
Im Ziel:
11
 158 (M: 8888 / W: 2270)
 
Männer
1. Sisay Lemma Kasaye (Äthiopien) 2:06:26
2. Lani Kiplagat Rutto (Kenia) 2:06:34
3. Alfers Lagat (Kenia) 2:06:48
4. Arne Gabius (Deutschland) 2:08:33
5. Suleiman Simotwo (Kenia) 2:08:49
6. John Kemboi Cheruiyot (Kenia) 2:08:56
 
Frauen
1. Gulume Tollesa Chala (Äthiopien) 2:23:12
2. Dinknesh Tefera (Äthiopien) 2:23:12 (FF)
3. Koren Yal (Äthiopien) 2:23:52
4. Sardana Trofimowa (Rußland) 2:24:38
5. Meseret Tolwak (Äthiopien) 2:27:17
6. Lisa Hahner (Deutschland) 2:28:39
 
Vitus
Startnummer:
11553
Nation: Deutschland
Zeit: aufg.
Platz:
0 bei den Männern
Platz: 0 in Klasse M50
Platz: 0 von 14
 565 Gesamt
 
Ergebnisse

Frankfurt-Marathon
Das Erste nach sechs Wochen